040 - Paris, Stadt der Sünde
glaubte an die Unverletzlichkeit der Ehe, an die Überlegenheit des britischen Empire und die Unfehlbarkeit britischer Gesetzgebung.
Ein Verstoß gegen diese Prinzipien erschütterte sein Rechtsempfinden und sein moralisches Wertesystem aufs Empfindlichste.
An diesem Tag hatte er seinem Sekretär freigegeben. Je weniger Zeugen es bei der Aufdeckung der Schande seines Mandanten gab, desto besser. Mr Mitchum setzte sich an seinen Schreibtisch und wartete geduldig, während draußen der Schnee vom grauen Himmel rieselte. Er würde sich zum Abendessen verspäten, und seine liebe Frau würde ihm Vorhaltungen machen, weniger wegen seiner Unpünktlichkeit als aus Sorge um ihn. Er würde sich ein Glas Burgunder genehmigen und ihr in groben Zügen berichten, was ihm in den letzten Tagen zu schaffen gemacht hatte. Und sie würde ihm einen Kuss auf die Stirn drücken, ihm versichern, dass er ein guter Mann sei, und er würde sich besser fühlen.
Endlich erschien sein Mandant, mit einer halben Stunde Verspätung. Mr Mitchum verabscheute Unpünktlichkeit, versuchte jedoch Verständnis aufzubringen. Ohne bereit zu sein, sich in die Lage des Mannes zu versetzen, würde er vermutlich gleichfalls zögern, sich seinem Ankläger zu stellen, wenn er sich einer so schweren Straftat schuldig gemacht hätte, überlegte er.
Wieder warf er einen Blick aus dem Fenster. Ein Schneesturm braute sich zusammen.
Dieser harte Winter wollte nicht enden, von Frühlingserwachen keine Spur. Je früher er nach Hause kam, umso besser.
Sein Klient entschuldigte sich überschwänglich für die Verspätung, während er sich den Schnee vom Hut klopfte. Wenn er den Grund ahnte, warum Mitchum ihn um diese Unterredung gebeten hatte, ließ er sich nichts davon anmerken.
Nach der Begrüßung wollte der Rechtsanwalt keine unnötige Zeit mit dem Austausch belangloser Höflichkeiten verlieren und kam umgehend zur Sache. „Ich fürchte“, begann er, „ich bin auf ein ernsthaftes Problem gestoßen, Mr Harriman. Ihre Unterlagen sind eine Fälschung. Sie sind ebenso wenig der Erbe von Lord Tollivers Vermögen wie ich.“
Marcus Harriman war ein gut aussehender, umgänglicher Mann und lächelte unschuldig. „Da scheint Ihnen wohl ein Fehler unterlaufen zu sein, Mr Mitchum“, entgegnete er liebenswürdig. Er hatte es abgelehnt, sich zu setzen, und stand am Fenster, den Blick auf das Schneetreiben gerichtet. „Es muss sich um eine Verleumdung handeln. Wer weiß sonst noch von diesen empörenden Anschuldigungen?“
Mr Mitchum straffte würdevoll die Schultern. „Ich bin für meine Diskretion bekannt, Sir“, entgegnete er gekränkt. „Bislang habe ich meinen Verdacht niemandem gegenüber geäußert, da ich Ihnen die Chance einräumen wollte, die Angelegenheit gütlich zu regeln und zu bereinigen.“
„Verstehe“, sagte Mr Harriman. „Ich weiß Ihr Verständnis sehr zu schätzen, die Dinge aufzuklären. Haben Sie die Güte, mir die Dokumente vorzulegen und zu erklären, wo Sie einen Fehler zu entdecken glaubten?“
Mr Mitchum breitete die Papiere vor ihm aus. Mr Harriman umrundete den Schreibtisch und stellte sich neben ihn. „Hier“, sagte der Anwalt und deutete auf eine gefälschte Unterschrift. „Und hier ebenfalls“, fügte er hinzu, während Mr Harriman sich über ihn beugte.
Mitchum sah zuerst das Blut, bevor er etwas spürte, und legte beide Hände an seinen Hals, im vergeblichen Versuch, die sprudelnde Blutung zu stillen. Es gab keinen Schmerz, ein Segen, dachte er. Das Gesicht seiner Frau verschwamm vor seinen Augen, und dann fiel er vornüber. Tot.
Marcus Harriman wischte die Klinge am Rockärmel des alten Anwalts ab und steckte den Dolch in die Innentasche seines Mantels. Umsichtig sammelte er die blutbespritzten Dokumente ein und warf sie ins Feuer. Er wartete, bis sie verkohlt waren, nahm die Schaufel zur Hand, häufte Kohlen aus dem Kamin darauf und verteilte die Glut über Teppich und Schreibtisch. Die Flammen züngelten beinahe augenblicklich hoch.
Zufrieden trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sein Werk. In der Rue du Pélican hatte er nicht gewagt, länger zu bleiben. Er hatte überstürzt gehandelt und letztlich versagt. Diesmal aber hatte er ganze Arbeit geleistet.
Er warf einen letzten Blick auf den Rechtsanwalt, dem die Perücke vom Kopf gerutscht war und der in seinem Blut lag. Er sah lächerlich aus, der alte Narr. Marcus lachte hämisch in sich hinein.
Eine Minute später trat er ins Freie und zog die Tür
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