040 - Paris, Stadt der Sünde
und benehmen sich wie ... wie Tiere. Du möchtest doch nicht, dass ich mich an solchem Treiben beteilige, nicht wahr? Selbst wenn er es wünschte?“
Lydia blickte in die braunen Augen ihrer Schwester, in denen sie eine tiefere Besorgnis las als in all den Jahren ihrer bitteren Not. „Verzeih, Schwesterherz. Ich war gedankenlos. Es tut mir weh, wenn du dich selbst herabsetzt, aber du hast recht. Ein solches Interesse wäre unser Verderben.“
„Das gilt auch für Mr Reading, Lyddie.“
Lydia verstand sich vorzüglich darauf, die Augen niederzuschlagen und Vermieter und Gläubiger zu täuschen. Und sie verstand sich auch glänzend darauf, ihre Schwester zu täuschen, zumal Elinor so verstört wirkte. Im Übrigen hatte der Mann sich ihr gegenüber nur ausgesucht höflich verhalten, und in seinem entstellten und dennoch schönen Gesicht hatte sie kaum eine Regung gelesen.
Ebenso wie Lydia sich darauf verstand, andere Menschen zu täuschen, besaß sie die Fähigkeit zu erkennen, was in anderen Menschen vorging. Hinter Charles Readings Fassade höflicher Zurückhaltung hatte sie ein ähnliches befremdliches Sehnen wahrgenommen, wie es in ihr aufgekeimt war. Ein Sehnen, das ihr den Magen flattern und die Knie weich werden ließ. Sie hatte mit jungen Männern geflirtet, ohne je in die Gefahr zu geraten, ihre Unschuld zu verlieren. Und plötzlich tauchte ein unglücklicher Mann mit einer Narbe im Gesicht auf, und sie begann zu träumen ...
Nein, sie durfte nicht den Kopf verlieren. Das Haus war bitterkalt, das Feuer im Ofen zur Glut heruntergebrannt. Elinor ahnte nicht, dass Lydia plante, sich heute Abend nach Geschäftsschluss mit dem Gemüsehändler Monsieur Garot zu treffen. Und sie würde alles tun, was nötig war, um Elinor ein wenig von der Last abzunehmen, die sie sich aufgebürdet hatte.
Sie sah dieser Begegnung mit nüchterner Vernunft entgegen. Und sie wusste ebenso wie Nell, dass Charles Reading nicht für sie bestimmt war.
Was allerdings nicht bedeutete, dass sie sich verbieten müsste, Träumereien nachzuhängen.
„Natürlich, Nell“, sagte sie zerstreut. „Er interessiert mich nicht. Schließlich warte ich auf einen reichen Prinzen, wenn ich dich daran erinnern darf.“
Und Elinor erwiderte ihr Lächeln, zu erleichtert, um zu erkennen, dass ihre Schwester sie zum ersten Mal in ihrem Leben belog.
Rohan war nicht Stimmung, sich mit Nichtigkeiten zu befassen, als er kurze Zeit später auf der harten Pritsche in Etiennes gut ausgestatteter Arztpraxis lag. Dieses Geld war wenigstens gut investiert, dachte er schläfrig. Dabei hatte er lediglich den lamentierenden Franzosen daran hindern wollen, ihm mit seinen Klagen noch länger auf die Nerven zu gehen. Nie hätte er gedacht, dass ihm seine Großzügigkeit eines Tages das Leben retten würde.
Sein Cousin hatte ihm Laudanum verabreicht, und Francis kannte die berauschende Wirkung des Betäubungsmittels, die ihn in einen seligen Dämmerzustand versetzte.
Er entsann sich lediglich einiger Minuten lästiger Schmerzen, als Etienne in seinem Oberarm auf der Suche nach der Pistolenkugel herumgebohrt hatte, wobei der junge Arzt zweifellos große Genugtuung empfunden hatte, dem vermeintlichen Betrüger, der ihn um sein Erbe gebracht hatte, Schmerzen zuzufügen. Aber diese Qualen waren bereits im Nebel des Vergessens verschluckt. Wenn er nur nicht so unbequem liegen würde ...
„Du kommst wieder zu Bewusstsein, Cousin.“
Rohan drehte den Kopf und sah Etienne de Giverney, der sich über ihn beugte.
Eigentlich ein gut aussehender Mann, wenn er nicht ständig diese beleidigte sauertöpfische Miene aufsetzen würde.
„Hast du mir etwa das Leben gerettet, Etienne?“, murmelte er mit schwerer Zunge.
„Das muss dir wohl gehörig gegen den Strich gegangen sein.“
„Bilde dir nicht zu viel ein. Die Kugel steckte in deinem Arm, nicht in deiner Brust.
Wer immer auf dich geschossen hat, der Kerl war ein ausgemachter Stümper.“
„Was dich vermutlich traurig stimmt, wie?“
„Ich finde lediglich, auch Attentäter sollten ihr Handwerk verstehen“, erwiderte Etienne griesgrämig.
Francis löste sich widerstrebend aus seiner wohligen Schwere und versuchte, sich ohne Hilfe seines Lebensretters wider Willen zum Sitzen aufzurichten. „Denkst du, es könnte ein Mordanschlag gewesen sein?“
„Da du dich in der Stadt aufhältst, war es wohl kaum ein Jagdunfall“, versetzte Etienne trocken. „Und ich könnte mir denken, es gibt einige Leute, die dir den
Weitere Kostenlose Bücher