0405 - Mit Blut geschrieben
Tisch.
»Was willst du denn?«, fragte sie zurück, in der Hoffnung, dass ihre Frage gehört wurde.
»Ich will dich!«
»Und…«
Sie hörte das Lachen. »Lass mich ausreden. Ich will dich als Übermittlerin. Du wolltest mein Testament, viele wollten es, die davon gehört hatten. Aber ich habe dich ausgesucht, um dir die Zeilen, die mit Blut geschrieben sind, zu geben. Verstanden?«
»Ja.«
»Dann steh auf.«
Sarah Goldwyn hatte sich in die Höhe stemmen wollen, überlegte es sich im letzten Augenblick anders und starrte in die Düsternis der Zelle. Sie dachte an eine Falle, und Rasputin merkte dies, ohne dass sie darüber gesprochen hätte.
»Keine Sorge, ich werde dich gut und sicher zu dem Ort führen, wo ich mein Testament verborgen habe. Schließlich will auch ich es wieder in meinen Besitz bringen. Ich will es sehen, ich will wissen, ob es noch dort vorhanden ist, wo ich es damals verborgen habe.«
»Und was soll ich tun?«, hauchte sie.
»Nur meinen Anweisungen folgen. Wichtig sind die Karten. Man sagt, dass der Prophet Hesekiel das Tarock-Spiel erfunden haben soll. Das stimmt auch. Zwar nicht in der Vollendung, wie man es heute kennt, aber über die Grundbegriffe hat er sehr wohl nachgedacht und dieses Wissen möglicherweise von einem gefährlichen Dämon namens Baal übernommen. Aber das ist nie genau herausgefunden worden. Ich jedenfalls habe mich sehr für die Magie und Faszination der Karten interessiert und deshalb auch die Brücken zwischen den beiden Polen aufbauen können. Auf der einen Seite Baal, auf der anderen Hesekiel.« Er lachte. »Sogar an das Kreuz deines Freundes Sinclair bin ich herangekommen.«
»Ich weiß.«
»Und jetzt steh auf und geh zur Tür.«
»Sie ist abgeschlossen!«
»Nein!«, lautete die Antwort. »Für dich wird es keine verschlossenen Türen mehr geben. Dieses Kloster habe ich zwar verlassen, körperlich, meine ich, aber in den Mauern ist noch mein Geist vorhanden, der es einmal beherrscht hat. Die Menschen waren arrogant und ignorant. Sie haben nicht auf das geachtet, was sich einmal zwischen den Mauern befand. Sie wollten mich vergessen. Ich war ein Relikt aus der Zarenzeit und passte nicht mehr in ihren Sozialismus. Aber die Dämonologie ist weit verzweigt. Sie nimmt auf Gesellschaftssysteme keine Rücksicht.« Rasputin wechselte von einem Moment zum anderen das Thema. »Und jetzt geh!«
Lady Sarah nickte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Worten des Mannes zu vertrauen. Sie stemmte sich von ihrem Stuhl hoch, drehte sich nach links und schritt der Tür entgegen. Dort sah sie die Karte, das Holz, die Klinke, das Schloss.
Letzteres war verschlossen worden, als man sie in den Raum geworfen hatte.
Lady Sarah traute Rasputin bisher noch nicht so ganz. Das aber änderte sich, als sie die Klinke nach unten drückte und feststellte, dass die Tür nicht verschlossen war.
Es war im ersten Moment ein wunderbares Gefühl für sie, die Tür aufziehen und die Zelle verlassen zu können. Der nächste Schritt brachte sie über die Schwelle und in den Gang hinein, der sich links und rechts von ihr ausbreitete.
Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte und musste. Der Gang sah aus wie ein Tunnel, so düster war er, und ziemlich weit entfernt brannte eine trübe Lampe, deren Schein so schwach war, dass er nicht mal den Boden erreichte.
Sehr weit entfernt glaubte sie Stimmen zu hören. Darum brauchte sich die Horror-Oma nicht zu kümmern. Sie verließ sich einzig und allein auf ihren Geistführer, der ihr den Weg zum Ziel zeigen wollte.
So schritt sie durch den Raum zwischen der düsteren Mauer, behielt das Licht im Auge, das ihr als Orientierungshilfe diente, und spürte auch etwas von der Last der Geschichte, die hier lagerte. Sie hatte das Gefühl, von zahlreichen Gestalten umgeben zu sein, ohne jedoch eine von ihnen sehen zu können.
Aus dem Geisterreich wurde sie bewacht. Wahrscheinlich deshalb, weil Rasputins Testament so ungemein wichtig war. Welche Geheimnisse und Rätsel, die die damalige Welt beschäftigten, mochte er darin aufgeführt und vielleicht sogar erklärt haben?
Die Wände wuchsen näher zusammen. Sie verengten den Gang, aber Lady Sarah konnte noch immer normal laufen, ohne dass sie mit den Schultern über die Mauern schabte.
Ein wenig nervös war sie schon, auch wenn sie immer sagte, dass dieses Gefühl in ihrem Alter nicht mehr existent war. Aber sie dachte daran, dass sie der Weg auch in eine Falle führen konnte. Jedenfalls sah sie keinen
Weitere Kostenlose Bücher