0417 - Silbermond-Vampir
Sie hatte nur Augen und Ohren für eine einzige, wichtige Sache gehabt und alles andere zwar registriert, aber nicht bewußt wahrgenommen. Jetzt wurde ihr klar, daß das in panischer Angst mit dem Auto flüchtende Mädchen wohl nicht einmal die Zeit gefunden hatte, sich nach dem Aufschrecken aus dem Schlaf anzukleiden…
Nicole näherte sich der offenen Haustür. Fast fürchtete sie sich vor dem, was sie in diesem schweigenden Haus finden würde. Denn das Mädchen hatte hier bestimmt nicht allein gewohnt…
Dann sah sie hinter der Eingangstür das erste Opfer des Vampirs liegen. Blutleer und tot. Nicole erschauerte vor dem Anblick. Verschrumpelte, bleiche Haut, die -das Opfer wie eine uralte Greisin aussehen ließ…
Nicole ging weiter.
Sie durchstreifte das Haus und fand den Leichnam eines Mannes. Er war nicht ganz so blutleer, aber er war tot.
Nicole ließ sich im Kaminzimmer in einen Sessel sinken. Sie fühlte sich hilflos. Eigentlich mußte es die Vorsicht und Voraussicht gebieten, den Vampiropfern einen Eichenpflock ins Herz zu treiben. Denn sonst mochte es geschehen, daß sie sich in der nächsten Nacht als Untote wieder erhoben und selbst auf Menschenjagd gingen. Der Vampir hatte den mörderischen Keim mit dem Biß auf seine Opfer übertragen.
»Unersättliche Bestie«, flüsterte Nicole erschüttert. Oft genug hatte sie mit Vampiren zu tun gehabt. Aber dies war das erste Mal, daß ein Blutsauger in seiner Gier zwei Menschen zugleich getötet hatte - und noch auf den dritten Jagd machte! Dieser Vampir mußte ein mörderisches Ungeheuer sein, ein Killer, dessen Blutdurst eigentlich längst gestillt hätte sein müssen. Vampire tranken nur wenig. Sie suchten ihre Opfer immer wieder in regelmäßigen Abständen heim, löschten ihr Leben mit einem Mal aus, so wie diese gierige Bestie es getan hatte.
»Lieber Himmel, ich will doch nicht so werden wie der…«, flüsterte Nicole.
Und sie saß da, war unfähig, etwas zu tun oder einen Plan zu fassen. Sie brachte es nicht fertig, zu tun, was getan werden mußte. Scheute sie davor zurück, sich an »ihresgleichen« zu vergreifen, um ihnen die Erlösung vom beginnenden Dasein der Untoten zu geben? War sie selbst schon zu sehr Vampir, um zu dieser radikalen, aber einzig wirksamen Lösung zu greifen?
Das einzige, was ihr völlig klar war, war, daß sie einen Unterschlupf für den kommenden Tag gefunden hatte. In diesem Haus lebte kein Mensch mehr. Es war leer. Nicole würde nicht in die Versuchung kommen, Menschen anzufallen, um den Blutdurst zu stillen. Und es würde sie auch niemand aufspüren und nach dem Woher und Wohin fragen. Sie war allein hier…
An das Mädchen draußen auf der Straße dachte sie schon längst nicht mehr…
***
Der Vampir existerte noch.
Er war sehr schwer angeschlagen und rang mit dem Tod. Die Energie des Amuletts hatte ihm erheblich zugesetzt. Nur noch unter größten Anstrengungen konnte er sich verwandeln. Fliegen konnte er nicht mehr, dazu war er längst viel zu geschwächt. Aber noch lebte er.
Und instinktiv tat er das Richtige; er schirmte seine Gedanken ab, blockierte seine Aura mit aller geistigen Kraft, die er noch besaß. So war die fremde Vampirin, die ihm das letzte Opfer abgejagt hatte, nicht mehr in der Lage, ihn wieder aufzuspüren und weiter zu verfolgen und zu bekämpfen.
Andererseits konnte er selbst so natürlich auch nicht mehr verfolgen, wohin sich die Vampirin jetzt bewegte.
Er wartete ab.
So lange, bis er sicher sein konnte, daß es keine weitere Verfolgung gab. Er bemühte sich, die rasenden Schmerzen zu bekämpfen und zu ignorieren, die von seinen schweren Verletzungen ausgingen, und schlug sich mühsam durch das Unterholz. Er war äußerst verwundert. Normalerweise machten Verletzungen ihm nichts aus; ihm zugefügte Wunden schlossen sich innerhalb kürzester Zeit von selbst wieder, und Schmerzen kannte er eigentlich überhaupt nicht. Diese Vampirin mußte ihn mit einer ungewöhnlichen, magischen Waffe attackiert haben, an der nichts normal war. Er hatte schon fast geglaubt, sie besiegt zu haben, als er ihr Kraft entzog, als sie ihn ihrerseits besiegte, und er war froh, daß es ihm noch gelungen war, zu fliehen, ehe sie ihn tötete.
In sich spürte er den Wunsch nach Rache immer größer werden, aber er mußte sich auch noch um das Opfer kümmern, das die Vampirin ihm abgejagt hatte. Wahrscheinlich würde sie es an der Straße liegen lassen.
Bisher hatte der Vampir immer dafür sorgen können, daß es
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