0438 - Der Drachenturm
Gras und Laubreste.
La-Soor preßte die Lippen zusammen. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Was war Illusion, was Wirklichkeit?
Eines der Mädchen löste sich aus dem Halbkreis, ging zu einem der Sträucher und pflückte ein paar Früchte ab, die es La-Soor entgegen hielt. Nur langsam ließ er das Schwert sinken. Sein Mißtrauen bestand immer noch, als er das Mädchen aufforderte, zuerst von den Früchten zu kosten.
Sie biß vergnügt hinein und verzehrte eine der bunten Früchte, die eine Mischung aus Apfel und Tomate zu sein schien. Da erst griff La-Soor nach der nächsten und war überrascht von dem herrlichen Geschmack der saftigen Frucht.
Es überzeugte ihn fast.
Das Auge läßt sich leicht täuschen, wußte er. Aber die Geschmacks- und Geruchssinne…? Denn er roch die Früchte auch.
Er riskierte einen Blick zurück. Die Wand der Festung hatte sich in ihrer Struktur und Farbe nicht verändert. Auch das Tor war nach wie vor in die Nachbildung eines gewaltigen aufgerissenen Maules mit langen, spitzen Zähnen eingelassen. Zumindest hier gab es also keine Paradieswelt, sondern immer noch den schreckerregenden Dämonenschädel riesigen Ausmaßes.
»Sein« Mädchen griff nach seiner linken Hand. »Komm, Drachentöter. Gonethos wartet auf dich. Im nebeligen Alptraumwald hast du bewiesen, daß du würdig bist, von ihm empfangen zu werden.«
Wenn’s der Prüfungen nicht mehr waren - die einzige Bedrohung, die La-Soor wirklich zu schaffen gemacht hatte, waren die Raubtiere gewesen, die ihn umschlichen. Der Nebelwald hatte ihm keine Furcht einflößen können. Einem leibhaftigen Drachen gegenüberzutreten, war wesentlich gefährlicher.
Als hätte das Mädchen seine Gedanken gelesen, hörte er die nackte Schönheit sagen: »Viele andere hätten in panischer Furcht schreiend die Flucht ergriffen, aber du hast dich einfach weiter bewegt und alle Gefahren ignoriert… oder hast du die Schlangen und Skorpione nicht gesehen, die Spinnen, die auf dich lauerten, um dich in ihren Netzen zu fangen, wenn du nur um eine Mannslänge vom Pfad abgekommen wärest? Hast du nicht den Sumpf gesehen, dem du ausgewichen bist?«
Er schüttelte nur den Kopf.
Spöttisch bemerkte er: »Nichts dergleichen ist mir aufgefallen, aber wie sollten diese Dinge mir gefährlich werden, wenn sie doch nur Illusion waren, wie du behauptest?«
»Drachentöter, auch an Gefahren, die man nur zu erkennen glaubt, kann man sterben…«
Und da zog sie ihn bereits mit sanfter Bestimmtheit auf das Tor zu, das bis jetzt verschlossen gewesen war, sich nun aber wie von Geisterhand öffnete.
Die sechs anderen Mädchen folgten ihnen.
La-Soor sah nicht die Blicke, die sie sich aus den bernsteingelben Raubtieraugen gegenseitig zuwarfen, und er sah auch nicht, wie eines der Mädchen hinter ihm kurz die Hand hob und aus den Fingerkuppen lange, scharfe Krallen ausfahren ließ, die aber auf ein tadelndes Kopfschütteln einer Gefährtin hin wieder verschwanden…
***
Professor Zamorra drückte auf die Ruftaste der Sprechanlage, die die meisten Räume und einen Teil der Außenanlagen von Château Montagne miteinander verband. Augenblicke später meldete sich dann Raffael Bois.
Der alte Diener schien vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr stets präsent zu sein. Ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit Zamorra seine Hilfe benötigte - er war da, stets hellwach und korrekt gekleidet. Manchmal kam es Zamorra vor, als schliefe der alte Mann nie, der sich partout nicht pensionieren lassen wollte. Und mittlerweile hatte Zamorra es auch aufgegeben, Raffael zum Ruhestand zu überreden. Ein Château Montagne ohne Raffael Bois war undenkbar.
»Seien Sie bitte so gut und holen Sie uns eine… nein, lieber zwei Flaschen aus dem Keller. Einen leichten roten… und bringen Sie eine an den Pool. Die zweite später…«
»Sofort, Monsieur«, kam Raffaels Antwort von irgendwoher aus dem weiträumigen Gebäudekomplex, der mittlerweile fertig restauriert war. Nach dem dämonischen Angriff des Fürsten der Finsternis hatte es sehr lange gedauert, bis die Versicherungen zahlten. Immerhin war damals ein ganz erheblicher Brandschaden entstanden; vom Hauptgebäude waren praktisch nur die Mauern stehengeblieben. Aber jetzt war das Château wieder uneingeschränkt bewohnbar, nur die Einweihungsfeier hatte noch nicht stattgefunden. Es hatte Wichtigeres gegeben…
Zamorra verließ sein Arbeitszimmer, das er aus dem »Ausweichquartier« im Seitenflügel noch nicht wieder
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