0450 - Sukos Totenfeier
sie auch nicht hinausschauen und deshalb nicht erkennen, wohin die Reise ging.
Sie hatte sich mittlerweile wieder gefangen und war dabei, sich die Umgebung anzuschauen.
Drei Männer saßen mit ihr zusammen im Wagen. Zwei vorn, der dritte neben ihr, aber dennoch so weit getrennt, dass er den Arm ausstrecken musste, um sie zu berühren.
An den wenigen Worten, die er bisher mit ihr gewechselt hatte, hatte Shao erkannt, dass es sich dabei um den Anrufer handelte. Auch jetzt sah sie sein Gesicht kaum. Es wirkte wie ein graues Tuch innerhalb der dunklen Kleidung.
Dieser Mann war schwarz angezogen, als wollte er zu einer Beerdigung gehen. Bei dem Gedanken an eine Beerdigung zuckte Shao zusammen.
Wahrscheinlich war es ihre, für die er sich so in Trauerschale geworfen hatte.
Zwischen den Sitzen war soviel Platz, dass ein Mensch die Beine ausstrecken konnte, was Shao auch tat und sich dabei mit dem Oberkörper etwas nach rechts drehte. Zudem wollte sie auch aus dem Fenster schauen, denn zwischen der Gardine und der Scheibe gab es einen Spalt.
»Las es!«
Der neben ihr sitzende Mann hatte etwas von ihren Bemühungen bemerkt. Shao fühlte sich wie eine ertappte Sünderin und erschrak, doch sie sagte nichts.
Wieder kam die Hand. So dünn, so lang und gelb die Haut. Shao konnte nicht ausweichen und musste es zulassen, dass sich die Klaue auf ihren linken Oberschenkel legte. Der Kleiderstoff war sehr dünn. Durch ihn drang die Kälte seiner Haut.
Der Mann lachte leise. »Ein schönes Kleid«, flüsterte er und knüllte den Stoff zusammen. »Ein wirklich schönes und kostbares Kleid hast du dir da ausgesucht. Man kann dir nur dazu gratulieren.«
Shao nickte. Sie hatte eigentlich noch fragen wollen, was das alles bedeutete, doch sie hielt den Mund. Die Hand blieb liegen. Bei jeder Schaukelbewegung des Fahrzeugs und bei jeder Kurve rutschte sie mit, so dass sie in ständig wechselnden Richtungen über den Schenkel der Chinesin streifte.
»Wir haben lange gesucht, bis wir dich fanden, Shao. Du wirst uns den Weg weisen.«
»Wohin denn?«
»Zu deinem Bruder!«
»Ich habe keinen Brüder.«
Der andere lachte leise. Es hörte sich an, als würde Papier zerrissen. »O doch, du hast einen Bruder. Sogar einen sehr mächtigen und starken. Seinen Namen solltest du nie vergessen.«
»Wer ist es?«
»Susanoo!«
Diesmal musste Shao lachen. »Nein, das ist nicht mein Bruder. Susanoo ist ein finsterer Dämon, der im Dunklen Reich gefangen gehalten wird…«
»Dafür trägt Amaterasu die Schuld, Shao. Und du bist ein Nachkömmling der Sonnengöttin, das solltest du nicht vergessen. Wir brauchen dich, wir brauchen dein Opfer.«
Mehr sagte er nicht. Auch Shao blieb stumm. Sie saß verkrampft. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken, denn sie stellte fest, dass die Stimme des Mannes nicht mehr diesen hypnotischen Einfluss auf sie besaß wie bei den Telefongesprächen.
Zwangsläufig kam die Reue. Hatte sie nicht alles verkehrt gemacht?
Hätte sie sich nicht dagegen anstemmen können?
Nein, die andere Kraft war stärker gewesen.
Es wunderte Shao selbst, dass sie die Kraft fand, sich gegen ihr Schicksal zu stemmen und Fragen zu stellen. »Was habt ihr mit mir vor? Was soll ich tun?«
»Sterben!«
Ein klares Wort, eine ehrliche und auch eine brutale Antwort, die Shao schockierte.
»Und dann?«
»Hat Susanoo freie Bahn. Er wird aus dem Dunklen Reich zurückkehren, wohin ihn Amaterasu gestoßen hat. Nachdem die letzte aus der langen Ahnenreihe getilgt ist, geben wir Susanoo die große Chance. Dann werden wir ihn herbeirufen.«
Über Shaos Rücken rann ein kalter Schauer. Ihr war alles unheimlich.
Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie sich im Sessel zu sehen, aber sie saß nicht in ihrer Wohnung, sondern im Fond eines ihr fremden Fahrzeugs, dessen Fenster zudem noch verhängt worden waren.
»Kann ich denn Einzelheiten wissen?« fragte sie mit leiser Stimme.
Der fast gesichtslose Mann antwortete ihr mit einem leisen Lachen. »Die wirst du später erfahren. Nur soviel kann ich dir sagen. Wir fahren zu einem Theater. Dort wird sich dein Schicksal bei der zweiten Vorstellung entscheiden. Wir beginnen um Mitternacht. Es ist alles schon vorbereitet. Unter den Augen zahlreicher Zuschauer kannst du dein Leben aushauchen. Dafür sorgen die Trommler.«
»Wer sind sie?«
»Susanoos Diener.«
Shao ballte die Hände. Immer stärker wurde ihr bewusst, wie gering ihre Chancen letztendlich waren. Sie konnte es drehen und wenden, aus
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