0460 - Der grausame Wald
Dreieck. Die Anstrengung des Tages forderte auch bei Ray Askin Tribut. Irgendwann fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.
***
Welches Geräusch ihn geweckt hatte, wußte er nicht zu sagen. Von einem Moment zum anderen aber war er hellwach, schlug die Augen auf und warf einen Blick zur Uhr.
Zehn Minuten nach Mitternacht…
Askin setzte sich auf und lauschte.
Er vernahm die leisen Schnarchtöne aus den anderen Zelten. Die Jungen waren also ruhig. Sie hatten ihn nicht geweckt. Da mußte es einen anderen Grund gegeben haben, über den Ray nachdachte.
Aber welcher hatte das sein können? Auf der Lichtung war nichts zu erkennen. Weder ein Fuchs noch Rotwild umschlich die Zelte. Und doch mußte es einen Vorgang gegeben haben, der Askin aus dem Schlaf gerissen hatte. Und er wollte den Dingen auch auf den Grund gehen. Umsonst war er nicht so beunruhigt.
Askin kroch aus dem Zelt. Wie ein Hund, der seine Hütte verläßt, streckte er zunächst den Kopf aus dem Dreieck des Eingangs, schaute nach rechts und links, sah die Umrisse und Schatten der zwei anderen Zelte, aber sonst nichts.
Und doch war da etwas gewesen.
Askin richtete sich vor dem Zelt auf. Sein Blick war angespannt geworden, das Gesicht zeigte einen harten Ausdruck. Er hatte die Lippen aufeinandergepreßt und atmete durch die Nase die etwas kühler gewordene Luft ein. Als er sich aufrichtete, hörte er es.
Es war ein ungewöhnliches Geräusch, ein leises Rascheln und auch Rieseln, als würde etwas aus großer Höhe zu Boden fallen. Der junge Mann bekam zwar keine Angst, doch die Gänsehaut kroch so über seinen Rücken, als würde er von Spinnenfingern berührt.
Hier stimmte etwas nicht. Das Geräusch war zu ungewöhnlich. Das hatte es noch nie gegeben; Manchmal hörte es sich an wie leiser Regen, aber es fielen keine Tropfen vom Himmel.
Und doch blieb das Rascheln…
Es war Askin auch gelungen, die Richtung zu bestimmen. Genau dort, wo der Wald begann, vernahm er es. Diese Laute hatten die Zelte praktisch eingekreist.
Askin wurde nervös. Diese Geräusche waren nicht normal. Er kam sich plötzlich eingekreist und wie ein Gefangener vor. Noch einmal tauchte er zurück in das Zelt und nahm die Stablampe mit.
Sicherheitshalber steckte er auch die kleine Gaspistole in die rechte Tasche seiner Jogginghose. Als er auf den Waldrand zuschritt, war er kaum zu hören.
Seinen Schützlingen war glücklicherweise nichts aufgefallen. Das beruhigte ihn. Sie wollten schlafen. Bis zum Waldrand waren es nur wenige Schritte. Bevor Ray stehenblieb, schaltete er die Lampe ein. Sie gab einen breiten Strahl ab, den er schräg in die Höhe richtete. Er folgte ihm mit den Blicken und hatte plötzlich das Gefühl, einen bösen Traum zu erleben.
Von den Bäumen fielen die Blätter! Sie sahen aus, als wären sie mit einer Säure in Berührung gekommen.
Ray Askin fand keine Erklärung. Das war völlig absurd. Hier fiel ein Stück Umwelt einfach zusammen, ohne daß er etwas dagegen unternehmen konnte. Durch die Nase holte er Luft und bekam den Eindruck, als wäre diese mit Säure vermischt, die wenig später in seinen Schleimhäuten brannte. Der Lampenstrahl gab nur einen Ausschnitt wieder. Askin bewegte seine Hand nach rechts, er hob sie an, drückte sie tiefer, leuchtete mit dem fahlen Finger in das Unterholz, wo er erkennen mußte, daß auch das Gras und die Brennesseln nicht verschont wurden. Sie faulten und sanken vor seinen Augen zusammen.
Über das angestrahlte Stück des Waldbodens hatte sich bereits eine dunkle, schmierige Schicht gelegt, die an ausgelaufenes, verschmutztes Öl erinnerte.
Das Bild des Horrors verstärkte sich noch. Waren zuerst nur einige Blätter von den Zweigen gefallen, so wurden jetzt die Bäume kahl, und Askin wußte nicht mehr, was er machen sollte. Vor seinen Augen lief ein Horror ab, der einfach unbegreiflich war.
Wenn das zerstörte Laub den Boden berührte, vernahm er die leisen, raschelnden Geräusche, mit denen sich die Blätter übereinanderschoben.
Wieso fielen sie?
Er schaute zurück. Die Zelte hoben sich, schwach von dem Untergrund ab. Für einen Moment klärte sich die Gedankenwelt des Leaders. Er dachte daran, daß dieses Grauen sich nicht nur auf den Wald beschränken würde. Es wollte die Natur zerstören, und auch die Menschen waren ein Teil der Natur.
Also befanden sich er und die sechs Jungen in Gefahr. Er dachte an die Eltern, die ihm ihre Kinder anvertraut hatten. Alles hatte so harmonisch und normal begonnen, sollte
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