0462 - Wo der Orlock haust
werden, dann bekamen einige einen Lagerkoller.
Gegen Abend hörten die Mädchen Musik. Sie klang durch die breiten Gänge, wenn die Türen offenstanden. Bis zum Dinner mußte gearbeitet werden, danach war Freizeit.
Clara Hastings ging die Treppe hinab. Schülerinnen kamen ihr entgegen. Sie waren locker gekleidet, bunte Strumpfhosen, knappe Shirts, unter denen sich verdammt frauliche Figuren abzeichneten.
Locker fielen die Haare. Manche auch von Stirnbändern gehalten, denn die Mädchen kamen aus dem Keller, wo sich die Sport-Anlagen befanden. Das Schloß verfügte nicht nur über ein Schwimmbad, es konnte auch Squash gespielt werden. Auch Home-Trainer und ähnliche Gerätschaften hielten die Mädchen fit.
Die Hastings wurde angelacht. »Wollen Sie nicht auch mal Squash spielen?«
»Nein, danke.«
»Wäre aber nicht schlecht.«
»Wir sprechen uns morgen wieder, Kate«, sagte die Hastings.
»Ihre Arbeit war nicht besonders.«
»Ein Reinfall?«
»Fast.« Die Hastings ließ beide Mädchen stehen und ging weiter.
Auf ihren Lippen lag ein verbissenes Lächeln.
Sie wußte genau, daß man sie nicht mochte. Ihre Art kam einfach nicht an. Außerdem war sie kein sportlicher Typ. Daß sie in der Schule noch als Gouvernante geführt wurde, trug auch nicht dazu bei, von einem modernen jungen Menschen akzeptiert zu werden.
Verheiratet war die Hastings nie gewesen. Sie hatte auch keinen Mann vermißt und ging ganz in ihrer Arbeit auf.
Am Abend legte sie sich früh nieder und stand am Morgen ebenso früh wieder auf.
Zum Glück hatte die Wirkung des Alkohols nachgelassen. Sie war zwar nicht völlig verschwunden, aber die Hitze lag nicht mehr auf ihrem Gesicht.
Miß Hastings atmete auf, als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte. Sie lehnte sich gegen die Wand und wischte über ihr Gesicht. Rechts stand die Tür zum Bad offen. Man hatte die Bäder und Duschen nachträglich eingebaut. Einige Räume waren ziemlich klein, ihres allerdings größer.
Miß Hastings überlegte, ob sie noch ein Bad nehmen sollte. Sie ließ es bleiben. Wenn sie aufstand, wollte sie unter die Dusche steigen, jetzt wurde es Zeit, sich ins Bett zu legen.
Zum Glück war der Raum groß, sonst hätte ein sensibler Mensch wegen der Holzverkleidung an Decke und Wänden noch Platzangst bekommen können. Ein Schreibtisch stand ebenfalls im Zimmer. Er hatte seinen Platz vor dem großen Fenster gefunden, das bis zum Boden reichte.
Als Schreibtischstuhl diente eine sesselartige Sitzgelegenheit aus hellem Leder und Stahlrohr..
Die Hastings ließ sich auf den Sessel fallen und preßte beide Hände gegen das Gesicht. Ein Zucken lief über ihre Lippen, als sie an der rechten Schreibtischseite eine Schublade aufzog. Dort hielt sie etwas versteckt, von dem nur sie etwas wußte. Sie holte die Flasche Whisky auch nur in Notfällen hervor.
Das war so ein Notfall.
Nur wenig war getrunken worden. Sie zog den Korken hervor und lachte plötzlich leise. Wer sie jetzt von den Lehrern oder Schülern beobachtet hätte, wäre vom Glauben abgefallen. Eine whiskytrinkende Clara Hastings, das konnte es nicht geben.
Aber der Notfall mußte so behandelt werden.
Sie nahm einen kräftigen Schluck, verzog das Gesicht und stellte die Flasche wieder auf den Schreibtisch. Tief atmete sie durch. Ihr Gesicht nahm wieder Farbe an. Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. Wie das Zeug brannte, aber es tat gut.
Die Lehne ließ sich verstellen. Clara Hastings drückte sich zurück.
Für eine Weile schloß sie die Augen und hatte dabei das Gefühl, allmählich wegzufliegen. Hinein in eine Unendlichkeit, wo jemand auf sie wartete.
Der Orlock!
Dieser Gedanke quälte sie wie ein schriller Schrei. Verdammt auch. Wegen des Orlock ging es ihr so mies. Sie wußte, daß es ihn gab. Sie hatte seine Stimme gehört, sein gemeines Flüstern. Er lauerte zwischen den Mauern und wartete auf Opfer.
Mädchen gab es genug.
Die Hastings verzog die Lippen. Der Orlock war gefährlich, er war ein brutaler Killer, den auch das Grab, in das man ihn gesteckt hatte, nicht halten konnte.
Der Orlock war grausam und mordgierig. Er schaffte alles aus der Welt, was sich ihm in den Weg stellte. Vor hundert Jahren als Schänder bekannt, hatte er irgendwie überlebt und würde zurückkommen. Sie wußte es, und wahrscheinlich war sie die einzige in der Schule, die das Geheimnis des Orlocks kannte.
Sie hatte Kenneth Dalton einweihen wollen. Er jedoch hatte sie ausgelacht. Man wollte ihr nicht
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