0465 - Heute Engel - morgen Hexe
hatten auch fast die gleichen Haarschnitte, sehr kurz, fast eine Pagenform, und ich wurde an die Haartracht der alten Ägypterinnen erinnert.
Das war kein Zufall.
Niemand gab mir Antwort, auch als ich meine Frage halblaut stellte, um die Stille der Andacht nicht zu unterbrechen.
Sie sangen schon längst nicht mehr, ihre Gesichter wirkten leblos, als würden sie auf den Tod warten. Die Frauen hockten mit gekreuzten Beinen am Boden, ihre Hände hatten sie auf die Oberschenkel gelegt. Manchmal fuhr auch ein leichter Wind in den Krater, berührte die Gewänder und bewegte sie wie glänzenden Fahnenstoff.
Wenn ich mir diese zehn Personen so anschaute, hätten sie gut aus einer anderen Zeit stammen können.
Ich blickte wieder zum Rand des Kraters hoch. Dort stand Suko und wartete. Hinter ihm trieben dicht und feucht die dicken Nebelschwaden.
Er selbst war noch gut zu erkennen.
Ewig wollte ich hier nicht herumstehen und die Frauen und das Kreuz betrachten. Jemand musste mir einfach Auskunft geben. Dass sie nicht stumm waren, hatte ich schließlich gehört.
Ich blieb hinter der Frau stehen, die, wenn sie die Augen öffnete, direkt auf die Vorderseite des Henkelkreuzes schauen konnte. Noch hielt sie die Augen geschlossen, das aber änderte sich, als ich meine Hand auf ihre Schulter legte und sie zusammenzuckte.
Ich kam mir dabei vor wie der Prinz, der Dornröschen aus seinem langen Schlaf erweckt hat. Auch die Frau vor mir gab ein Geräusch von sich, das sich anhörte wie ein lautes Gähnen.
»Wieder wach?« fragte ich. Mir fiel nur diese dumme Frage ein.
Sie drehte den Kopf, so dass sich unsere Blicke trafen. Ich stellte fest, dass die Frau dunkle Augen hatte. Ihr Blick war mehr nach innen gekehrt. Es dauerte seine Zeit, bevor sie sich auf mich konzentrieren und die erste Frage stellen konnte.
»Wer bist du?« fragte sie.
»Ich heiße John.«
»Und weshalb hast du mich geweckt?«
»Na ja.« Ich verzog die Lippen. »Eigentlich bin ich rein zufällig an der Insel vorbeigekommen. Ich wunderte mich, dass sie plötzlich vorhanden war. Das kann noch nicht lange sein -oder?«
»Nein, John, nein. Die Insel kam aus dem Meer. Sie stieg aus den Fluten wie eine Göttin, denn sie ist der Platz und der Ort, den wir erreichen mussten.«
»Warum?«
»Du kannst es nicht wissen, denn du gehörst nicht zu uns, John.«
»Vielleicht möchte ich es gern wissen. Wie heißt du?«
»Was sind schon Namen im Ziel der Zeiten und Gewalten…«
»Nun gut. Es ist nicht tragisch, wenn du mir deinen Namen nicht nennen willst. Aber sag mir, auf wen ihr wartet.«
»Das Zeichen ist gegeben«, erwiderte sie. »Das große Zeichen, nach dem wir uns lange gesehnt haben. Wir wissen jetzt, dass uns der Weg über dieses Kreuz zu ihr führen kann.«
»Wer ist sie denn?«
»Eine Mächtige. Ein Wesen, das den Menschen schon immer große Rätsel aufgegeben hat. Man hat nach ihr geforscht, aber man hat sie nicht gefunden. Man erkannte Spuren, doch alle führten ins Nichts. Dabei wussten die Menschen nicht, dass man andere Wege beschreiten muss, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie ist unsere Göttin, und sie wird sich uns offenbaren, da sind wir sicher. Die Insel ist aus dem Meer gestiegen, und der Krater hat ihr Zeichen offenbart.«
Das war alles schön und gut, was sie mir da erzählte, aber ich wollte endlich den Namen wissen.
»Wie heißt sie, eure Königin?«
Die Frau ließ sich trotzdem Zeit, was meine innere Spannung noch erhöhte. Dann erst sprach sie den Namen aus.
Mit leiser, dennoch verständlicher Stimme. »Es ist die Königin von Sabal«
***
Irgendjemand schien einen Bohrer angestellt zu haben, dessen Spitze er mir gegen die Stirn drückte. Dann hatte ich noch das Gefühl, als hätte man mir die Beine unter dem Körper weggezogen. Aber ich schwebte nicht, auch wenn es mir so vorkam. Ich stand mit beiden Füßen auf der Erde. Dann hörte ich mich sprechen. Aber meine eigene Stimme klang mir so fremd. »Von wem hast du gesprochen?«
»Die Königin von Saba!«
»Und sie ist eure Herrin?«
»Ja.«
»Nicht die Große Mutter?«
Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ich sie geschlagen. Sie wirkte wie elektrisiert, ein Schauer rann über ihren Körper, und sie fragte mit leiser Stimme. »Wie kommst du auf Lilith?«
»Es war die Spur, die mich herbrachte!«
»Nein!« zischelte sie. »Das darf nicht sein. Wir wehren uns dagegen, wir sind verraten worden…«
»Durch wen?«
»Es war eine von uns, die das Böse in unsere Herzen
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