047 - Die letzten Tage von Riverside
sah Matt die anderen. Sie schwangen Zwillingsklingen über den Köpfen, stießen Kampfschreie aus und stürmten auf die Lichtung. Drakullen, zehn, zwölf oder mehr. Im Unterholz rund um die Lichtung hatten sie auf der Lauer gelegen. Über das Netz hinweg rannten sie nun zu den Vögeln, schlugen und stachen auf sie ein. Augenblicke spater erstarb deren Geflatter und Geschrei.
Weg hier, dachte Matt, nur weg, zurück zur Höhle, hinter Aruula her… Er drehte sich um und wollte vom Eichenstamm ins Unterholz springen -- und erstarrte.
Vier Drakullen standen reglos zwischen den entwurzelten Stämmen. Sie musterten ihn schweigend, und einer hielt Aruula fest. Seine schuppige Pranke verschloss ihr den Mund…
***
Riverside, Kalifornien, 24. Dezember 2011
Ein Lieferwagen hielt vor dem Haus. Zwei Männer in grauen Overalls stiegen aus. Kurz darauf schoben sie einen großen Karton auf einer Sackkarre am Gingko vorbei über den Kiesweg.
»Eine neue Waschmaschine, oder was?« Colin Ashton und seine Tochter standen an der Hecke auf dem Nachbargrundstück. Colin begutachtete den Karton. »So ist es Recht. Jede Anschaffung, jede Reparatur ist Widerstand gegen die verdammte Resignation Das Leben geht weiter.«
Seine Hände und Arme waren ölverschmiert; er hatte einen verrosteten Auspufftopf geschultert.
»Wie ist es, Simon - kommst du heute Abend in die Kirche?« Kathleen lächelte ihn an.
Blauschwarzes Haar rahmte ihr schmales, ebenmäßiges Gesicht ein. Manchmal fragte Simon sich, wie der stiernackige Colin und seine Walküre eine derart schöne Tochter zustande gebracht hatten.
»Ich komme gern zu deinem Theaterstück, Kathy«, sagte er. »Danke für die Einladung.«
»Ich freu mich.« Sie wollte zum Haus zurück, drehte sich aber noch einmal um.
»Mom sagt, Matt sei zurück nach Europa geflogen?« Simon nickte. »Das find ich gut. Grüß ihn, wenn ihr telefoniert.« Simon versprach es.
Auf der Straße rollte ein Streifenwagen vorbei. Colin winkte. Fast stündlich patrouillierten seine Kollegen auf der Lincoln Avenue. Seit zwei Tagen. Seit Rudy Armagosa verschwunden war.
»Was bringen die da?«, wollte Eve wissen. Sie tauchte neben Simon an der offenen Haustür auf und beäugte die Männer mit der Sackkarre.
»Mein Weihnachtsgeschenk!« Simon sprach so laut, dass Colin es hören konnte.
Er ließ die Männer den Karton in den Keller bringen. Ihre misstrauischen Blicke trafen ihn, als sie die Pistole in seinem Gürtelholster sahen. Seit dem Kampf mit den Vergewaltigern trennte er sich nicht einmal mehr im Schlaf von ihr.
Die Männer schwitzten und fluchten, während sie die Sackkarre Stufe für Stufe die Treppe hinunter ließen. Simon beglück- wünschte sich, dass er vor fünfundzwanzig Jahren unter dem Kopfschütteln und gegen den Rat der meisten Nachbarn einen Keller hatte ausheben lassen. Damals existierte noch die Sowjetunion, und damals glaubte er noch an einen Atomkrieg.
Während Eve die Männer zur Haustür brachte und ihnen dort noch ein Trinkgeld in die Hand drückte, begann Simon den Karton zu öffnen. Als seine Frau zurück in den Keller kam, hatte er sein »Weihnachtsgeschenk« ausgepackt.
»Simon!« Eve runzelte die Stirn. »Was soll das ?« Ungläubig und vorwurfsvoll zugleich sah sie ihn an. »Wozu brauchen wir einen Tresor?« In ihrer Stimme schwang all das mit, was sie nicht aussprach: In etwas mehr als einem Monat wird ein Komet die Menschheit in den Abgrund stoßen, und du Narr kaufst einen Tresor?
»Sprich es ruhig aus.« Er nahm sie in den Arm. »Du hältst mich für übergeschnappt. Auf allen Kanälen kündigen sie Erdbeben, Flutwellen, Feuerorkane und atomaren Winter an, und Simon Drax kauft einen Tresor.« Er grinste. Es war ein wehmütiges Grinsen.
»Nein, aber…« Sie suchte nach Worten. »Ich meine…« Langsam schritt sie um den Safe herum. Tatsächlich war er nur wenig kleiner als ein Waschautomat. »Ich meine… was willst du denn darin noch aufbewahren?« Sie flüsterte nur noch. »Und für wen?«
Und von einem Augenblick auf den anderen war er wieder gegenwärtig, wie so oft schon in den vergangenen Tagen: der Tod. Sie schluckte, er schluckte, und dann fielen sie sich in die Arme und hielten sich fest.
»Ich kann mich nicht damit abfinden, weißt du?«, sagte er später. Rücken an Rücken saßen sie auf dem Tresor. Simon hatte eine Flasche Rotwein aus dem Kellerregal gefischt. Sie tranken aus der Flasche. »Mit meinem persönlichen Ende schon, aber nicht damit, dass unser
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