0473 - Botin des Unheils
entwickeln mußte. Die Wohnung war für sie bezahlbar geworden, seit sie einen mittleren Lotteriegewinn machen konnte der ihr half, künftig einigermaßen menschenwürdig leben zu können, ohne arbeiten zu müssen. Das bestärkte sie natürlich noch weiter in ihrer Isolation. Sie wurde dadurch immer weltfremder mit den Jahren. Aber sie wollte ja die Menschen ganz bewußt meiden, um sie nicht in den Bannkreis dieses unseligen Fluches zu ziehen. Aber auch wenn sie es sich nicht selbst eingestehen wollte: Sie litt sehr unter ihrer selbstgewählten Einsamkeit. Eine Einsamkeit mitten in der Großstadt, im Menschengewimmel… aber hier kam niemand auf die Idee, sie zu stören. Begegnete man sich im Treppenhaus, auf dem Flur oder im Fahrstuhl, so wandte Naomi den Kopf ab und bemühte sich, unnahbar zu wirken, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden das der Anfang einer neuerlichen Tragödie sein konnte.
Allerdings gab es diese Gelegenheiten nur noch selten. Ihre Kontobewegungen regelte sie per Post, ihre Einkäufe per Telefon - was sie zum Leben brauchte, stellte man ihr vor die Wohnungstür, und sie holte es herein, sobald der Bote wieder fort war. Mit der Außenwelt hatte sie nur noch dann Kontakt, wenn es wirklich unumgänglich war. Ansonsten gab es Radio, Fernsehen und Zeitungen, die sie sich ebenfalls zustellen ließ.
Mehrmals sah sie eine Annonce im Anzeigenteil der Tageszeitung, die sie neugierig machte. Da bot eine Hexe ihre Dienste an…
Die Zeiten hatten sich geändert. Vor Jahrhunderten waren Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Heute inserierten sie… aber ebenfalls aus den Medien wußte Naomi Varese, daß die meisten dieser Hexen Scharlatane waren, Betrügerinnen, die ihren Klienten etwas vorgaukelten, eine Menge Geld kassierten und dann wieder untertauchten, ohne daß sich an der persönlichen Situation des Klienten, oder besser des Kunden, sonderlich viel geändert hatte. Meistens überhaupt nichts - wenn man davon absah, daß die Kontofarbe von schwarz auf rot wechselte. Andere dieser Hexen unterhielten okkulte und spiritistische Zirkel, feierten getarnte Orgien… wie auch immer, es war nur Betrug und Nepp im Spiel. Es gab nur wenige »echte« Hexen, wie Cila es gewesen war.
Aber in diesem Fall hatte Naomi das Gefühl, es mit einer echten Hexe zu tun zu haben. Sie zögerte lange und dachte nach, selbst als die Annonce schon über zwei Wochen lang nicht mehr geschaltet worden war. Sie kam zu dem Schluß, daß es an ihr selbst liegen mußte. Vielleicht war sie durch Cilas Fluch empfindlich für übersinnliche Dinge geworden, und vielleicht hat jene Hexe ihr Inserat so abgefaßt, daß eine bestimmte Wortkombination entsprechende Assoziationen auslöste in Menschen, die schon einmal mit übersinnlichen Erscheinungen zu tun bekommen hatten.
Was auch immer es war, das sie zu ihrem Entschluß trieb - sie rief die Telefonnummer jener Hexe an und vereinbarte mit ihr einen Gesprächstermin. Elf Tage später - die Hexe mußte einen recht gut ausgebuchten Terminkalender führen, weil vorher nichts zu machen war - fand sich Naomi in der Wohnung dieser Hexe ein. Sie hatte erwartet, entweder eine Luxusvilla zu sehen, die von den Klienten der Hexe finanziert worden war, welche ausgenommen wurden wie die Mastgänse - oder eine Dachstube, in der es von Unheimlichem nur so wimmelte. Getrocknete Fledermäuse, Totenschädel, riesige Spinnennetze und dergleichen mehr… aber die Hexe Jeanne Verlors bewohnte eine ganz normale Dreizimmerwohnung in der Vorstadt.
Sie war eine unscheinbare Mittvierzigerin, die nichts dafür tat, auffällig zu wirken und sich aus der Menge hervorzuheben. Sie konnte auch sehr gut zuhören. Naomi schilderte der Hexe ihre Not. »Vielleicht haben Sie eine Möglichkeit, diesen Fluch von mir zu nehmen«, schloß sie.
Jeanne Verlors lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen den Mut nicht nehmen«, sagte sie, »aber ich fürchte, daß das unmöglich ist. Ich kann es versuchen, aber wenn es sich wirklich um einen so starken Fluch handelt, wie ich annehme, bin ich machtlos. Wenn selbst der Tod nicht stark genug war…«
Sie erhob sich.
»Ich will es tun, wenn Sie darauf bestehen, Mademoiselle Varese. Aber ich werde Ihnen nichts berechnen, wenn der Versuch nicht zu einem Sie zufriedenstellenden Ergebnis führt. Nur wenn ich Erfolg habe, bekomme ich von Ihnen ein Honorar in Höhe von fünfzigtausend Francs.«
Naomi schnappte nach Luft. »Fünfzig…«
Die Hexe lächelte
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