0485 - Die Furie
Ruder«, bedauerte er. »Dieser mysteriöse Mord…«
»… den Ihre Assistentin, die Dämonin, begangen hat!« unterbrach Nicole scharf. »Und es ist nicht ihr erster Mord - weder in Lyon, noch vermutlich anderswo. Seit wann wissen Sie davon, Textor? Oder - womit hat sie Sie in der Hand? Zwischen Ihnen beiden bestand während der Vorstellung ein Kräftefluß. Lucy liefert Ihnen die magische Energie für Ihre Zauberkunststücke, nicht wahr? Aber warum dulden Sie die Morde? Ist es Ihnen dermaßen viel wert?«
Textors Augen wurden immer größer, je länger Nicole redete. Sie hatte sich zu dieser Schocktherapie entschlossen. Es waren nur Vermutungen, die sie für sich anstellte, aber Textors Fassungslosigkeit zeigte ihr, daß sie sich auf der richtigen Spur befand.
»Wie - wie kommen Sie darauf?« stieß er bestürzt hervor.
»Kommen Sie, Textor«, sagte Nicole. »Wir wissen doch beide, daß es stimmt. Und wir wissen auch beide, daß sie eine Mörderin decken. Eine Mörderin, die noch dazu nicht menschlich ist. Wie haben Sie sich zusammengefunden? Und wie lange wollen Sie dieses entwürdigende Trauerspiel, diese Horror-Geschichte, noch durchziehen? Geben Sie es auf, Textor. Wir kriegen Ihre Lucy. Wir sind haarscharf dran. Sie sollten sich nach einer anderen Assistentin oder nach einem anderen Job umsehen, wenn der wirklich nur von Lucys Magie abhängt.«
Textor erhob sich langsam. Er schien sich wieder gefangen zu haben.
»Sie glauben eine Menge zu wissen«, sagte er.
Nicole schüttelte den Kopf. »Das ist kein Glauben. Das sind logische Schlußfolgerungen, denen genaue Beobachtungen zugrundeliegen. Hören Sie, Textor. Es ist vorbei, sehen Sie das doch ein.«
Textor drehte ihr nun den Rücken zu, aber ihre Blicke trafen sich jetzt im Spiegel. »Gesetzt den Fall«, sagte Textor langsam, »gesetzt den Fall, Sie hätten recht. Nur mal ganz theoretisch angenommen. Was würden Sie, beziehungsweise Ihr Chef, tun?«
»Die Dämonin unschädlich machen«, sagte Nicole.
Textor lachte leise. »Und wie stellen Sie sich das vor? Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wovon Sie reden?«
Nicole erhob sich. »Wahrscheinlich mehr als Sie«, sagte sie schneidend. »Also, Textor. Was ist nun? Reden Sie, oder nicht? Lucy ist eine Gefahr. Sie darf nicht weiter morden. Textor, ich bin sicher, daß wir beweisen können, was sie tut. Und dann sind Sie mit dran. Wegen Beihilfe, oder zumindest wegen Duldung.«
Der Zauberer schluckte. »Welcher Richter wird Ihnen denn glauben?« fragte er.
»Sie haben nicht richtig zugehört«, erwiderte Nicole schroff. »Ich sagte: wir können es beweisen. Nicht nur behaupten. Also, Textor, entscheiden Sie sich.«
Er nickte langsam. »Bringen Sie sie um«, sagte er. »Wenn Sie es können. Wie hoch ist Ihr Preis?«
***
Die Gesandte der Hölle jagte mit geradezu unwahrscheinlichem Tempo durch das Saône-Wasser. Sorgsam achtete sie darauf, daß sie immer mindestens zwei Meter unter der Oberfläche blieb. Daß sie dort unten kaum etwas sehen konnte, spielte keine Rolle; sie orientierte sich ohnehin mit ganz anderen Sinnen. Innerhalb weniger Minuten legte sie in dem recht trüben Wasser eine Strecke von mehreren Kilometern zurück. Erst dann riskierte sie es, wieder an Land zu steigen. Sie befand sich jetzt in der Nähe des Hafens; längst hatte sie die Stelle passiert, an der Saone und Rhône Zusammenflüssen.
Die Furie rollte sich am befestigten Ufer zusammen. Sie war erschöpft. Auch wenn sie mit der Strömung geschwommen war und es so leichter gehabt hatte, kostete die Flucht sie erhebliche Kraft. Sie hatte ihre Muskeln mit Magie verstärkt, um schneller sein zu können als jeder Mensch. Jetzt war die Kraft verbraucht. In diesem Moment war die Furie extrem angreifbar. Jetzt hätte Robin sie mit seinen Schüssen verletzen können.
Aber er konnte nicht wissen, wo sie an Land gegangen war - ob direkt in seiner Nähe, oder sehr weit entfernt. Selbst wenn er sofort eine große Suchaktion einleitete, gab es allein im Stadtbereich insgesamt weit über hundert Kilometer Ufer zu beiden Seiten beider Flüsse zu kontrollieren. Und Lucy konnte überall sein!
Sie mußte wieder morden. Sie mußte zu Kräften kommen. Auf alles andere konnte sie verzichten - essen, trinken, schlafen -, aber nicht auf diese spezielle Art, sich zu regenerieren.
Dieser zusätzliche Kräfteverbrauch war nicht eingeplant gewesen. Ausgerechnet der Parapsychologe war ihr Feind, und als sie ihm unmittelbar gegenübergestanden hatte,
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