0487 - Im Tempel des Drachen
hinein. Die Treppe führte weiter abwärts. Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, ihn ins Leere zu setzen. Die Furcht und die Spannung blieben. Auf meinem Rücken lag eine Gänsehaut. Meine Kehle war trocken. Viel hätte ich für einen Schluck Wasser gegeben.
Ich hielt an der linken Seite eines der grünen Feuer im Auge. Schon seit einigen Minuten wurde ich den Eindruck nicht los, daß wir uns dieser Lichtinsel besonders näherten. Ich hatte mich auch nicht getäuscht, denn plötzlich schwebte das Feuer nur eine Armlänge neben mir, wenigstens hatte ich den Eindruck.
Auch Lin Cho war stehengeblieben. Er wartete ab, drehte sich, so daß er das Feuer anschauen konnte.
Es lebte…
Zum erstenmal sah ich es aus der Nähe. In seinem Kern, er war dunkler als der Rand, schwebte ein Gesicht.
Kein menschliches, es hatte die Züge eines Monstrums angenommen, eben die eines Drachen.
Geformt aus Feuer und tanzenden Armen, manchmal verwischend, aber immer vorhanden und uns unter Kontrolle haltend.
»Gleich passiert etwas«, wisperte Suko. »Ich spüre es genau. Warte noch ein wenig.«
Mein Freund hatte sich nicht geirrt. Überall, wo die grünen Feuer leuchteten, erhellte sich plötzlich die Umgebung. Die Finsternis zerriß wie ein Stück Stoff, das jemand zerfetzt hatte.
Lichtflecke entstanden, und zwar so groß, daß sie uns einen Blick in die Tiefe erlaubten und gleichzeitig auch in die Weite des Raumes oder dieser Dimension.
Es war gewaltig.
Ich hatte schon viel erlebt, aber diese Szenerie machte mich einfach sprachlos.
Man hatte einmal den Begriff von fließenden Grenzen geprägt. In dieser Dimension gab es sie nicht, sie war einfach grenzenlos. Ich sah weder einen Anfang noch ein Ende. Es gab keine seitlichen Trennungen, nur die Weite und die Leere eines von grünem Licht erhellten, schwarzen Raumes.
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Bisher hatte ich nicht gedacht, daß wir uns in einer fremden Dimension bewegten, doch dies hier war ein magisches Reich.
Und ich sah die Treppe.
Zum Glück war ich darauf vorbereitet, sonst hätte ich noch das große Zittern bekommen. Sie führte tatsächlich frei in die Tiefe des Raumes hinein. Ich sah nicht einmal Felsen oder Wände, und die Aneinanderreihung von Stufen schwebte in der Mitte, falls überhaupt eine solche vorhanden war.
Unwahrscheinlich…
Shao sprach wieder mit Lin Cho, und sie gab die Worte weiter, die sie erfahren hatte.
Suko erzählte sie mir dann. »Er kann die Grenzen nicht mehr schließen«, erklärte er. »Shimada hat den Weg in diese Welt gefunden. Wir sollten uns beeilen.«
»Was kann er tun?«
»Ich weiß es nicht, aber er hat bereits seine Diener geschickt. Wir haben die Chokis erlebt.«
»Die Kopflosen?«
»Ja, sie sind Dämonen, die in seiner Welt existieren. Sie kauern in der Festung, er hat sie freigelassen, und sie wühlen sich inzwischen weiter vor.«
»Wohin?«
»Zu uns wahrscheinlich.« Vor Suko entstand Bewegung. Shao und Yakup gingen wieder.
Auch ich blieb nicht länger stehen und folgte den Freunden eine Stufe hinter Suko.
Glücklicherweise begleitete uns das Licht auf unserem weiteren Weg durch die magische Welt des Drachen. Wir mußten doch irgendwann ein Ende finden.
Die innerliche Spannung wuchs. Ich dachte an die Chokis, von denen Suko gesprochen hatte. Noch hatte ich sie nicht gesehen. Sollten sie diese Welt tatsächlich erreicht haben, würden sie auch angreifen. Und auf der Treppe konnten wir uns kaum halten.
Da passierte es.
Ich sah nur einen Schatten, blieb stehen, duckte mich, hörte Yakups heiseren Schrei und sah im nächsten Moment vor mir die schattenhafte Bewegung, die zur linken Seite hin wegkippte.
Aus dem Schatten wurde eine Gestalt mit hochgerissenen Armen. Dann fiel Yakup vor unseren Augen in die Tiefe…
***
Manchmal gibt es Situationen, wo einem Menschen das Herz praktisch stehenbleibt. So etwas erlebte ich wieder. Ich hielt die Augen für einen Moment geschlossen, riß sie wieder auf und versuchte, den Weg des fallenden Körpers zu verfolgen.
Manchmal sah ich ihn, immer dann, wenn er in die Nähe eines Feuers geriet. Dann war er wieder weg, aufgesaugt von der Finsternis, umfallend die nächste Lichtinsel zu erreichen.
Die Dimension schluckte und saugte ihn auf.
War das sein Ende?
»John, vor mir!«
Suko hatte mich gewarnt. Auf der schmalen Stufe duckte er sich, so daß ich den Schatten sah, der dort stand, wo Yakup einmal seinen Platz gehabt hatte.
Es war ein Choki!
Kopflos, klein,
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