0488 - Blutregen
nicht fassen, daß der Fremde aus einer anderen Welt nicht vor ihm erzitterte, sondern ihn angegriffen hatte. Dieser Angriff war dermaßen überraschend gekommen, daß Robor instinktiv sein Heil in der Flucht gesucht hatte. Hinzu kam, daß er seit seiner Kindheit keinem körperlichen Angriff mehr ausgesetzt gewesen war. Wer wagte es denn schon, einen Priester anzugreifen? Das Amt schützte den Mann, und wo das nicht ausreichte, gab es die Diener. So hatte es Robor nie gelernt, sich wirkungsvoll zu verteidigen. Als er dann endlich nach der zweiten Versetzung Zamorra von sich stoßen konnte, war der Ruck natürlich viel zu wild und heftig gewesen.
Der Schrei war verstummt.
Robor trat langsam zum Fenster. Er, der sogar bereit war, sich notfalls mit seinem Dämon Gaap anzulegen, zitterte. Zamorras Angriff machte ihm immer noch zu schaffen. Vorsichtig sah Robor aus dem Fenster, bemüht, nicht ebenfalls in die Tiefe zu stürzen. Das war momentan seine größte Sorge, auch wenn sie unlogisch war.
Er erwartete, Zamorra mit zerschmetterten Gliedern zwischen Tempel und Umfassungsmauer unter den Bäumen im Gras liegen zu sehen.
Aber da lag niemand.
Irritiert weitete Robor seinen Gesichtskreis aus. So stark war der Wind doch gar nicht, daß er einen schweren menschlichen Körper so weit davongetrieben haben konnte!
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Robor den Schatten eines Menschen zu sehen. Aber als er genauer hinsah, war da nichts.
Er rieb sich die Augen. »Bei den drei Göttern«, murmelte er. »Der Kerl ist verschwunden - das ist doch unmöglich!«
Er mußte an Gaap denken.
Sollte er, Robor, nicht der einzige sein, der über Gaaps Gabe verfügte, sich mittels Gedankenkraft von einem Ort zum anderen zu setzen? Landaron fiel ihm ein. Wie war er verschwunden? Gaap hatte ihn zu sich geholt! Und dann war Landaron plötzlich wieder dagewesen, ausgerechnet im Folterraum! Allerdings hatte Robor ihn nicht bei einem Gedankenschritt gesehen. Doch der Fremde mußte über diese Fähigkeit verfügen; wie sonst hätte er so spurlos verschwinden können?
Noch einmal sah sich Robor um. Ein paar im Tempel wohnende Brüder vom Stein, durch den Schrei alarmiert, tauchten auf. Sie suchten nach dem Urheber des Schreies und konnten ihn nicht finden. Einer sah zum Fenster empor. Aber Robor trat rechtzeitig zurück, so daß er von unten nicht gesehen werden konnte.
Nach ein paar Minuten wurde es wieder still. Robor schaute nach draußen. Aber von Zamorra war immer noch nichts zu sehen.
Da wußte Robor, daß er seinen Gefangenen verloren hatte. Und mit ihm das Wissen über Ash’Cant.
***
»Mich dünkt, unsere Mission dürfte sich hiermit von selbst erledigt haben«, brummte Don Cristofero mit sichtlichem Unbehagen. »Einen solchen Sturz überlebt niemand. Mithin gibt es keinen Grund mehr, daß wir uns fürderhin in Gefahr begeben. Eher sollten wir uns bemühen, einen Rückweg zum Castillo Montego… äh, zum Château Montagne zu finden. Vielleicht war ein pfiffiges Bäuerlein so freundlich, unweit von hier ein weiteres Feld dieser Regenbogenblumen anzupflanzen.«
Nicole schüttelte den Kopf. »Er kann nicht tot sein«, murmelte sie.
Um den Tempel herum wurde es laut. Der Schrei des Stürzenden war natürlich nicht ungehört verhallt. Cristofero drängte Nicole zurück. »Da wimmelt es jetzt von Steinbrüdern«, warnte er. »Sie würden Euch sicher enttarnen, aufgeregt wie Ihr seid, Mademoiselle. Ihr könnt den Leichnam nicht bergen. Das besorgen nun die anderen. Vergeßt ihn. Denkt lieber an Euer eigenes Leben.«
»Er kann nicht tot sein«, wiederholte Nicole leise.
»Wunschträume… doch habt Ihr wohl vergessen, zuvor an der Wunderlampe zu reiben. Aladins Dschinn hat Herrn deMontagne gewiß nicht auffangen können.«
»Ich wüßte es, wenn er tot wäre«, erwiderte Nicole. »Vielleicht war es jemand, der ihm ähnlich sieht.«
»Die Stimme, der Schrei…«
»War verzerrt! Don Cristofero, es gibt zwischen Zamorra und mir eine Verbindung, die vielleicht kein normaler Mensch verstehen kann. Wenn einer von uns stirbt, weiß es der Partner.«
Cristofero hob die Brauen. »Sicher habt Ihr das bereits einmal ausprobiert«, bemerkte er sarkastisch. »Ihr wollt es nicht wahrhaben. Aber Ihr werdet Euch an diesen unangenehmen Gedanken gewöhnen müssen. - Verzeiht meine Neugierde, geschätzte Mademoiselle: Hat Herr deMontagne Nachkommen ersten Grades? Jemanden, der das Château erben könnte? Wenn nicht, müßte es doch eigentlich
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