0488 - Die Mumie und der Totengott
retten.
Der Hohepriester trat zurück, verneigte sich vor Miriam, und die anderen taten es ihm nach.
Ihre Bewegungen wirkten gemessen, manchmal zeitlupenhaft. Als der Hohepriester die Arme hob, veränderte sich plötzlich die Farbe des Lichts. Es dunkelte nach und nahm gleichzeitig einen völlig anderen Schein an.
Violett und leicht dunkelrot angehaucht, legte es sich schleierartig über den Raum.
Ein unheimliches Licht. Düster und kalt, aber für eine furchtbare Zeremonie wie die, die dem jungen Mädchen bevorstand, gerade richtig.
Als das Licht seine Stärke erreicht hatte, bewegten sich auch die zwölf Diener. Sie stellten sich zu einem Halbkreis zusammen und bauten sich dabei so auf, daß sie die Kriegsgöttin ansehen konnten.
Ihre Blicke waren auch gegen das Gesicht der Statue gerichtet. Es lag im Schatten und war trotzdem hell. Unnatürlich hell. Gelblich, leicht schimmernd. Ein Löwenschädel mit breitem Maul und dem unheimlich gewordenen Blick des Augenpares. Die dort steckenden Steine hatten sich stark verändert, sie waren dunkel geworden und trotzdem bannend.
Lebte Sechmet?
Diese Frage stellte sich Suko nicht zum erstenmal. Es war sehr schwer, darauf eine Antwort zu finden, Suko aber wußte, daß es lebende Statuen gab.
Er konzentrierte sich auf den Hohepriester, für den nur noch die Göttin existierte.
Sein Greisengesicht hatte einen verzückten Ausdruck angenommen. Der Hochmut war aus ihm verschwunden, jetzt gab es für Ralston nur noch die Kriegsgöttin.
Er strahlte sie an.
Seine Lippen zuckten, dann erst begann er zu sprechen, und er redete mit einer dunklen, volltönenden Stimme, um die ihn mancher Schauspieler beneidet hätte.
»O große Sechmet, erhöre deine Diener, die das für dich tun wollen, was man schon in alter Zeit für dich getan hat. Es gibt Dinge, die können auch vom Sand der Jahrhunderte nicht zugeschüttet werden. Ich habe den Ruf vernommen. Ich wußte, daß du etwas von mir wolltest, daß ich dir dienen mußte, und ich habe dieses Nachricht weitergegeben und viele andere gefunden. Die alte Zeit hat uns eingeholt, die alten Riten leben wieder auf, und es werden die sein, an die sich die Menschen sonst kaum noch erinnern. Man hat sie einfach gestrichen oder spricht nur am Rande davon. Ich aber habe vor, sie wieder zu einem Mittelpunkt zu machen. Aus diesem Grunde haben wir uns hier versammelt. Wir müssen für das Mädchen das Totengericht halten. Erst wenn das geschieht, kann der Austausch zwischen den beiden Körpern stattfinden.«
Suko verzog den Mund. Für ihn war es keine Überraschung. Aber er würde diesem Greis einen Strich durch die Rechnung machen.
Der Hohepriester sprach weiter. »Ein Totengericht, das uns eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schlägt. Das Zeichen ist gesetzt worden. Wir haben die gläserne Pyramide gesehen, in der die Totengöttin ihren Platz gefunden hat. Sie überwand bereits die Zeiten, sie kam zu uns, auf den Boden, den wir geweiht haben. Miriam hat den Trank bereits zu sich genommen. Sie wartet darauf, die große Reise antreten zu können. Eine Reise in andere Sphären, in die Vergangenheit, durch den Tunnel des Vergessens. Sie sei Sechmet geweiht, und ich werde den alten Obsidiandolch nehmen, um ihr die große Reise zu ermöglichen. Wie sagte Sechmet noch? Wie fanden wir es überliefert? Wenn ich Menschen erschlage, lacht mir das Herz im Leib. Wir werden dafür sorgen, daß es lachen wird. Auch das Herz dieses Mädchens soll der Göttin geweiht sein.«
Damit beendete der Hohepriester seine Rede und ließ die Worte noch nachwirken.
Suko überlegte. Er kannte die schrecklichen Rituale der alten Ägypter. Er hatte auch von den Totengerichten gehört, die sie abhielten. Er wußte, daß es dabei eine Totenfresserin gab, die bereit war, sich auf die oder den Verdammten zu stürzen. Jeder Besucher des Britischen Museums konnte dieses Motiv betrachten, denn dort hing ein Ausschnitt aus dem Totenbuch des Hunofer, der zur Regierungszeit Sethos’ I. gelebt hatte.
Auch Suko hatte dieses Motiv schon gesehen, und er konnte sich vorstellen, was Miriam erwartete.
Noch lag sie bewegungslos. Das Licht war zu dunkel, um ihr Gesicht genau erkennen zu können, aber Suko nahm die Bewegung Lord Ralstons wahr.
Der Mann griff in eine Falte seines langen Umhangs und holte dort einen schmalen Gegenstand hervor, den Suko erst erkannte, als er die Hand drehte.
Es war ein Dolch!
Eine grünbläulich schimmernde Obsidianklinge. Sehr lang
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