0492 - Die Wölfin von Rom
Ich sah ihr Maul, dann biß sie zu. An der Schulter. Es… es tut so weh, weißt du.«
»Der Arzt wird gleich kommen.« Gibli strich durch das dichte, rabenschwarze Haar.
»Ich… ich habe Glück gehabt, nicht?« fragte sie leise. »Es hätte auch anders kommen können.«
»Ja…«
»Wieso?«
»Ich weiß es nicht. Die Wölfe sind plötzlich da. Irgendwie müssen sie es geschafft haben, aus den Bergen zu kommen.«
»Sie sind doch ausgestorben.«
»Anscheinend nicht.«
Der Dottore kam. Er war ein kleiner, quicklebendiger Mann, ruderte mit den Armen und schuf zunächst einmal Platz. Dann wurde das Mädchen auf ein altes Sofa gelegt, und der Arzt konnte sich um Julietta kümmern. »Wo sind denn ihre Geschwister und die Mutter?«
»Eingeladen«, erklärte eine Nachbarin. »Julietta war allein.«
»Ach so.«
Gibli hörte nur mit einem Ohr zu. Er war ans Fenster getreten und blickte hinaus.
Die Nacht war düster. Sie roch anders, nach Gewürzen, nach Schweiß und Abfall. Über sich sah er den Himmel. Ein gewaltiges Meer, auf dem Sterne glänzten.
Und in der Ferne hörte er das Jaulen. Unheimlich klang es über die Dächer des Campo, dieses Viertels, in dem sie alle lebten. Das Heulen war wie eine Botschaft, und Gibli fragte sich, für wen sie gedacht war.
Vielleicht für ihn, für alle Menschen hier oder für die Menschheit überhaupt?
Es war nicht nur ein Wolf, der heulte. Andere stimmten mit ein.
Sie hielten sich an verschiedenen Orten auf und grüßten sich durch ihr Heulen.
Wen heulten sie an? Den Mond? Die Nacht? Er wußte es nicht, aber sein Instinkt sagte ihm, daß die Gefahr noch längst nicht vorbei war. Sein Blick glitt nach links, wo die alte Signora ihren Hutmacherladen hatte. Sie war die letzte ihrer Generation. Um sie herum wohnten nur noch Hehler.
Jemand hatte die Mauern grün angestrichen. Das Haus hatte ein flaches Dach.
Neben der Fernsehantenne stand er wie ein Denkmal. Gibli erschrak selbst, als er ihn sah. Er rührte sich nicht. Der Mond zeichnete seine Umrisse nach. Seine Schnauze hielt er weit offen. Darin blinkten die Zähne wie die hellen Zinken einer scharfen Säge.
Er heulte den Mond an, schüttelte sich und rannte wie ein Phantom weg. Gibli aber blieb stehen. Er merkte kaum, daß er zitterte, und erst, als ihm jemand eine Hand auf die rechte Schulter legte, drehte er sich um.
Der alte Causio stand vor ihm.
Er trug nur sein fleckiges Unterhemd. Die Träger der Hose sahen aus wie gemalte Streifen.
»Du hast sie gehört, nicht?«
»Ja, und gesehen.«
Causio nickte. »Ich sage dir was, Gibli. Wenn die Wölfe heulen, ist das Ende der Welt nicht mehr fern…«
Der Polizist erwiderte nichts. Er starrte den alten Causio an, hob die Schultern und ließ ihn stehen, als er zu Julietta ging. Die Worte des Mannes aber wollten ihm nicht aus dem Kopf…
***
Es gibt in Rom viele berühmte Straßen. Wer die Ewige Stadt besuchte und das nötige Kleingeld besaß, konnte hier alles erwerben, und zwar nur vom Feinsten.
Auch die reichen Römer selbst liebten ihre Einkaufsstraßen, wo sich die Boutiquen weltbekannter Modeschöpfer ein Stelldichein gaben.
Moda per la Signora – Mode für die Frau. Das war ein Zauberwort, dem sich viele Damen nicht entziehen konnten. Und so erging es auch einer gewissen Sheila Conolly.
Sie hatte ihren Mann Bill endlich einmal dazu überreden können, einige Tage nach Rom zu fahren, um dort Urlaub zu machen. Johnny, ihr Sohn, hatte Ferien, und so war die Familie von London nach Rom geflogen. Drei Tage hatten es nur werden sollen, aber Sheila war es gelungen, ihren Mann zu überreden. Schließlich hatte Bill zugestimmt, zwei Wochen in der Ewigen Stadt zu bleiben.
Das hätte selbst Sheila kaum erwartet, und so machten die Conollys ein regelrechtes Programm, das jeweils spät am Abend endete und dabei immer zu einem kleinen »Freßfest« wurde.
Sheila hatte sich vorgenommen, nicht so viel zu essen, aber wer konnte schon fasten, angesichts der Köstlichkeiten, die in den Restaurants angeboten wurden?
In Rom wurde die Nacht zum Tag gemacht. Im Frühling begann die Stadt zu kochen, da hielt die Menschen nichts mehr in ihren teuren, oft viel zu engen Wohnungen. Da wollte man raus und das Leben genießen. Immer war die Nacht zu kurz, um sich an einer Stelle aufzuhalten. Man suchte den nächsten Nervenkitzel.
Doch Rom bestand für die Conollys nicht nur aus lauen Frühlingsnächten oder den Besichtigungen der zahlreichen historischen Stätten, es war vor allen
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