05 - Denn bitter ist der Tod
auf, den sie mit Mühe Doris Havers' Händen entwunden hatte. »Die können Sie doch später vorbeibringen, Kind. Sie wird sicher nicht alles auf einmal haben wollen.«
»Aber die Alben sind ihr sehr wichtig. Die muß sie haben. Sie hat...« Barbara hielt einen Moment inne. Ihr Verstand sagte ihr, daß ihr Handeln töricht war, aber ihr Herz sagte ihr, daß es keine andere Lösung gab. »Sie hat jahrelang immer Urlaubsreisen geplant und alles in ihren Alben eingeklebt. Sie blättert jeden Tag in ihnen. Sie kommt sich bestimmt völlig verloren vor und...«
Mrs. Flo legte ihr leicht die Hand auf den Arm. »Miss Havers, beruhigen Sie sich. Sie tun das einzig Richtige. Das müssen Sie sich vor Augen halten.«
»Nein. Es ist schon schlimm genug, daß ich vergessen habe, ihr ein Foto von mir einzupacken. Ich kann sie nicht einfach ohne ihre Alben hier zurücklassen. Entschuldigen Sie vielmals. Ich habe Ihre Zeit verschwendet. Ich habe alles verpfuscht. Ich will nur...« Sie würde nicht weinen, nein. Ihre Mutter brauchte sie, und sie mußte sofort mit Mrs. Gustafson sprechen.
Sie ging zur Kommode, nahm den Rahmen mit den Fotos herunter und legte ihn wieder in den Koffer. Sie klappte den Koffer zu und zog ihn vom Bett. Sie nahm ein Papiertaschentusch aus ihrer Manteltasche und wischte ihrer Mutter Wangen und Nase. »Okay, Mama«, sagte sie, »fahren wir wieder nach Hause.«
Der Chor sang das Kyrie, als Lynley den Chapel Court durchquerte und sich der Kirche näherte, die zwischen Arkaden den größten Teil der Westseite des Hofs einnahm. Ursprünglich war sie wohl so plaziert gewesen, daß aus dem Middle Court der bewundernde Blick auf sie fallen mußte; doch Rufe nach Vergrößerung der Universität hatten im achtzehnten Jahrhundert dazu geführt, daß sie von einem Geviert von Bauten eingeschlossen worden war, dessen Mittelpunkt sie nun bildete.
Bodenlampen beleuchteten die aus hellen Quadersteinen gefügten Mauern des Gebäudes, das, wenn schon nicht von Christopher Wren entworfen, eindeutig seiner Liebe zum klassischen Ebenmaß nachempfunden war. Die vier korinthischen Pilaster, die die Fassade der Kirche begrenzten, waren mit einem Ziergiebel mit Laterne und Uhr gekrönt. Dekorative Girlanden schwangen sich bogenförmig an den Pilastern abwärts. Zu beiden Seiten der Uhr schimmerte je ein Rundfenster. Durch die Arkaden zu beiden Seiten der Kirche waren der Fluß und die Parkanlagen dahinter zu sehen.
Die strahlenden Klänge einer Trompetenfanfare rissen Lynley aus seinen Betrachtungen. Die Töne schwebten rein und klar durch die kalte Nachtluft. Als Lynley das Seitenportal an der Südostecke des Baus aufzog, antwortete der Chor mit einem neuen Kyrie auf die Fanfare. Er trat in die Kirche, als eine zweite Fanfare erklang.
Bis zur Höhe der Bogenfenster waren die Wände in hellem Eichenholz getäfelt, das sich in den um einen Mittelgang gruppierten Kirchenstühlen wiederholte. Hier waren die Mitglieder des College-Chors aufgereiht, ihre Aufmerksamkeit auf eine einsame Trompeterin gerichtet, die am Fuß des Altars stand. Sie wirkte klein vor dem prächtigen Barockretabel mit einem Gemälde, das die Auferstehung des armen Lazarus zeigte. Als sie ihre zweite Fanfare geblasen hatte, senkte sie ihr Instrument, sah Lynley und lachte ihm zu, während der Chor sein letztes Kyrie sang. Es folgten einige dröhnende Takte auf der Orgel, dann war es still.
»Altstimmen, fürchterlich«, sagte der Chorleiter. »Soprane nichts als Gekreische. Tenöre wie jaulende Hunde. Die übrigen leidlich. Also bitte, morgen abend um die gleiche Zeit.«
Seine niederschmetternde Beurteilung wurde mit allgemeinem Stöhnen quittiert. Der Chorleiter ließ sich davon nicht erschüttern, schob seinen Bleistift hinter ein Ohr und sagte: »Aber die Trompete war ausgezeichnet. Danke, Miranda. Das war's, Herrschaften.«
Während die Gruppe sich langsam auflöste, ging Lynley den Mittelgang hinunter zu Miranda Webberly, die dabei war, ihre Trompete zu reinigen und in ihren Kasten zu pakken. »Du hast den Jazz an den Nagel gehängt, Randie?« sagte er.
Sie hob empört den Kopf mit den lockigen roten Haaren. »Ich? Nie im Leben!« erklärte sie.
»Du bist also noch bei den Jazzern?«
»Aber ja. Mittwoch abend haben wir in der Trinity Hall eine Session. Kommen Sie?«
»Mit Vergnügen. Das werde ich mir doch nicht entgehen lassen.«
Sie lachte. »Gut.« Sie klappte ihren Trompetenkasten zu und lehnte ihn an einen Kirchenstuhl. »Dad hat mich schon
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