05 - Denn bitter ist der Tod
worden war. Sein Gesicht und sein Körper waren in Schweiß gebadet. Laufen war etwas Herrliches.
Sieben Minuten, dachte er, für eine knappe Meile. Sie hatte für diese Strecke gewiß weniger als fünf Minuten gebraucht.
Sie war täglich mit ihrer Stiefmutter gelaufen. Sie war Langstreckenspezialistin gewesen. Sie hatte zum Geländeteam der Universität gehört. Wenn ihr Kalender stimmte, war sie seit dem vergangenen Januar regelmäßig bei den Hare and Hounds gelaufen, wahrscheinlich auch schon vorher. Abhängig von der Distanz, die sie sich für den fraglichen Morgen vorgenommen hatte, hatte sie ihr Tempo vielleicht gedrosselt. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß sie mehr als zehn Minuten gebraucht hatte, um bis zur Insel zu laufen, ganz gleich, was für ein Pensum sie vor sich gehabt hatte. Folglich mußte sie den Ort, wo der Tod auf sie gewartet hatte, nicht später als sechs Uhr fünfundzwanzig erreicht haben, es sei denn, sie hatte irgendwo unterwegs einen Halt eingelegt.
Er sah sich um. Ein Ort wie geschaffen für einen Hinterhalt, selbst ohne Nebel. Weiden, Erlen, Buchen - alle noch nicht kahl - bildeten eine undurchdringliche Wand, die die Insel nicht nur von der Dammstraße abschirmte, die sich an ihrem Südende oberhalb von ihr zur Stadt hinzog, sondern auch von dem öffentlichen Fußweg, der keine drei Meter entfernt am Fluß entlangführte. Wer ein Verbrechen plante, konnte hier damit rechnen, ungestört zu bleiben. Wenn auch gelegentlich ein Fußgänger die größere Brücke vom Coe Fen zur Insel überquerte und von da zum Fußweg weiterging, wenn auch Radfahrer über Sheep's Green oder zum Fluß entlangfuhren, hatte der Mörder ziemlich sicher sein können, daß in der nächtlichen Dunkelheit eines kalten Novembermorgens früh um halb sieben niemand ihn überraschen würde. Kein Mensch würde sich um diese Zeit in dieser Gegend aufhalten außer Elenas Stiefmutter. Und dafür, daß auch sie dem Ort an diesem Morgen fernblieb, hatte ein Anruf über das Schreibtelefon gesorgt, von jemand getätigt, der geglaubt hatte, Justine gut genug zu kennen, um zu wissen, daß sie allein nicht laufen würde.
Sie war aber doch gelaufen; hatte allerdings zum Glück für den Mörder eine andere Route gewählt. Immer vorausgesetzt, es konnte überhaupt von Glück die Rede sein.
Lynley blickte einen Moment lang, ans Geländer gelehnt, ins Wasser, dann richtete er sich auf und ging über die kleine Brücke auf die Insel. Das hohe Holztor zum Nordende stand offen. Auf der anderen Seite war eine Werkstatt, an deren Wand mehrere Boote gestapelt waren. Neben der grünen Tür lehnten drei alte Fahrräder. Drinnen untersuchten drei Männer in dicken Pullovern ein Loch in einem Kahn. Das Licht der Leuchtstoff röhren an der Decke legte einen gelblichen Schimmer auf ihre Haut.
»Verdammte Idioten sind das«, schimpfte einer der Männer. »Schaut euch den Riß an. Die reine Achtlosigkeit. Die haben alle keinen Respekt mehr heutzutage.«
Einer der anderen beiden Männer sah auf. Er war jung - höchstens zwanzig. Er hatte ein pickliges Gesicht und langes Haar, und sein Öhrläppchen zierte ein funkelnder Zirkon. »Ja?« sagte er. »Was gibt's?«
Die anderen beiden legten die Arbeit nieder. Sie waren schon älter, wirkten müde. Einer musterte Lynley von Kopf bis Fuß. Der andere ging zum anderen Ende der Werkstatt, schaltete eine Schleifmaschine ein und machte sich über die Seite eines Kanus her.
Lynley, der das amtliche Verbotsschild gesehen hatte, das das Südende der Insel absperrte, fragte sich, warum Sheehan hier nichts dergleichen veranlaßt hatte. Die Antwort bekam er von dem jungen Mann.
»Wir lassen uns doch hier nicht raussperren, nur weil irgendso ne Tussi Pech gehabt hat.«
»Nu mach mal halblang, Derek«, sagte der ältere Mann. »Es geht immerhin um einen Mord.«
Derek schüttelte nur verächtlich den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz ließ er zu Boden fallen, ohne sich darum zu kümmern, daß mehrere Farbkanister in der Nähe standen.
Nachdem Lynley sich ausgewiesen hatte, fragte er, ob einer von ihnen das tote Mädchen gekannt habe. Nein, sie wußten nur, daß es sich um eine Studentin handelte. Mehr hatten sie von der Polizei nicht erfahren.
Lynley fragte sich, ob die Polizei auch diesen nördlichen Teil der Insel abgesucht hatte.
»Die ham hier überall rumgeschnüffelt«, erklärte Derek. »Ham einfach das Tor aufgebrochen, eh wir hier waren. Ned war den ganzen Tag
Weitere Kostenlose Bücher