05 - Denn bitter ist der Tod
machen?«
»Sie soll das blaue Kleid tragen, das meine Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hat.«
»Wir können sie nicht wie ein Arme-Leute-Kind begraben. Das lasse ich nicht zu.«
Sie riß den Scheck aus dem Buch und sagte: »Wo ist der Mann jetzt hin? Hier ist sein Geld. Gehen wir.« Sie steuerte auf die Tür zu.
Anthony wollte sie am Arm fassen.
Sie fuhr zurück. »Du Bastard!« zischte sie. »Wer hat sie denn großgezogen, hm? Wer hat jahrelang mit ihr gearbeitet, um ihr das Sprechen beizubringen? Wer hat ihr bei den Schularbeiten geholfen und ihre Kleider gewaschen? Wer hat ihre Tränen getrocknet, wenn sie geweint hat, und nachts an ihrem Bett gesessen, wenn sie traurig oder krank war? Du nicht, du Egoist. Und deine Frau, die Schneekönigin, auch nicht. Elena ist meine Tochter, Anthony. Meine allein, damit du es weißt. Und ich werde sie so begraben, wie ich es für richtig halte. Weil ich nämlich im Gegensatz zu dir keinen Prestigeposten im Auge habe und nicht darauf Rücksicht nehmen muß, was die Leute von mir denken.«
Als ihm bewußt wurde, daß er kein Zeichen des Schmerzes bei ihr sah, konnte er plötzlich innerlich einen Schritt zurücktreten. Er sah keine Mutterliebe, er sah nichts, was die Tiefe ihres Verlusts angezeigt hätte. »Mit Elenas Begräbnis hat das alles überhaupt nichts zu tun«, sagte er in langsamem Begreifen. »Es geht immer noch um mich. Ich frage mich, ob ihr Tod überhaupt so schlimm für dich ist.«
»Wie kannst du es wagen!« flüsterte sie.
»Hast du geweint, Glyn? Verspürst du Schmerz? Fühlst du überhaupt etwas außer dem Bedürfnis, ihren Mord zur Rache zu nutzen? Es sollte mich wundern. Zu nichts anderem hast du sie ja ihr Leben lang benutzt.«
Er sah den Schlag nicht kommen. Ihre rechte Hand traf ihn mit solcher Wucht ins Gesicht, daß seine Brille zu Boden fiel.
»Du dreckiger...« Sie hob den Arm, um ein zweites Mal zuzuschlagen.
Er hielt sie fest. »Auf diesen Moment hast du jahrelang gewartet. Nur schade, daß du nicht das Publikum hast, das du gern hättest.« Er stieß sie weg. Sie taumelte an den grauen Sarg. Aber sie war noch nicht fertig.
»Red du mir nicht von Schmerz!« spie sie ihn an. »Red du mir ja nicht von Schmerz!«
Sie wandte sich ab, warf die Arme über den Sarg und begann zu weinen.
»Ich habe nichts. Sie ist tot. Ich kann sie nicht zurückhaben. Ich kann sie nirgends finden. Und ich kann nicht - ich kann niemals...« Die Finger einer Hand krümmten sich und begannen am Flanell des Sarges zu zupfen. »Aber du kannst. Du kannst immer noch, Anthony. Ich möchte, daß du stirbst.«
In all seiner Empörung verspürte er plötzlich erschrecktes Mitgefühl. Nach den Jahren der Feindschaft, nach diesen Augenblicken in dem Bestattungsinstitut hätte er es Pflicht für möglich gehalten, daß er je fähig sein würde, etwas anderes als Abscheu vor ihr zu empfinden. Aber in diesen Worten »du kannst« erkannte er das Ausmaß und die Natur ihres Schmerzes. Sie war sechsundvierzig Jahre alt. Sie konnte kein Kind mehr bekommen.
Daß der Gedanke, ein anderes Kind zu zeugen, um Elena zu ersetzen, undenkbar war; daß in dem Augenblick, als er die Leiche seiner Tochter erblickt hatte, sein Leben seinen Sinn verloren hatte; das spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle. Er konnte noch ein Kind zeugen, wenn er das wollte, ganz gleich, wie untröstlich er in diesem Augenblick war. Er hatte noch die Wahl. Glyn hatte sie nicht mehr.
Er trat einen Schritt näher zu ihr und legte ihr die Hand auf den zuckenden Rücken. »Glyn, ich...«
»Rühr mich nicht an!« Sie sprang zur Seite, verlor das Gleichgewicht und fiel auf ein Knie.
Der fadenscheinige Flanell, der den Sarg umhüllte, zerriß. Das Holz darunter war dünn und zerbrechlich.
Mit hämmerndem Herzen und dröhnendem Schädel hielt Lynley an, als er den Fen Causeway vor sich sah. Er zog seine Uhr aus der Tasche. Er klappte sie auf. Sieben Minuten.
Vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen, schüttelte er den Kopf. Knapp eine Meile gelaufen, und er war total erledigt. Sechzehn Jahre Rauchen hatten ihren Tribut gefordert. Zehn Monate Abstinenz reichten zur Wiedergutmachung nicht aus.
Stolpernd trat er auf die abgetretenen Holzplanken, die das Wasser zwischen Robinson Crusoe's Island und Sheep's Green überbrückten. Er lehnte sich an das Metallgeländer, warf den Kopf zurück und sog die Luft ein wie einer, der gerade vor dem Ertrinken gerettet
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