05 - Der Conquistador
wäre es mit der Wahrheit?«, entgegnete Maria Luisa. »Dass wir von Männern verfolgt wurden, die uns nach dem Leben trachten und dir schon einige Morde angehängt haben. Als sie uns in Carlotas Haus aufspürten, sind wir mit ihr geflohen. Ach ja – die Sache mit dem Kristall würde ich aber weglassen, abuelita. Sonst stecken sie dich noch in eine Anstalt.«
Tom nickte langsam. Vielleicht hatten die Beamten ja sogar den flüchtenden Mercedes gestellt. Dann konnte Carlotas Aussage dazu beitragen, ihn zu entlasten. Obwohl er daran nicht glauben wollte.
»Ja«, sagte nun auch Carlota. »So machen wir es. Bringt mich zu Miguel. Er wird staunen. Wir haben erst vor ein paar Wochen telefoniert, als seine Frau starb. Damals klagte er, er fühle sich so einsam wie noch nie. Ist das nicht verrückt? Jetzt bekommt er Gesellschaft, ob er will oder nicht.«
Tom startete den Motor und ließ den Land-Rover aus dem Waldstück rollen. Dann folgte er den Hinweisen der alten Dame und ließ sich von ihr zu besagtem Miguel lotsen. Er wohnte gut vierzig Kilometer außerhalb von Madrid in einer kleinen Gemeinde namens El Escorial. Während der ganzen Fahrt dorthin begegnete ihnen kein einziges Polizeifahrzeug.
Und – was noch wichtiger war – auch kein schwarzer S-Klasse-Mercedes.
***
Schon während der Fahrt hatte Tom sich von Carlota verabschiedet und für alles entschuldigt, was sein Aufenthalt bei ihr angerichtet hatte. Zu seiner Verblüffung fand die alte Dame die Geschehnisse offenbar nicht ganz so furchtbar, wie er gedacht hatte. Die Freude, noch einmal etwas so Aufregendes erlebt zu haben, überwog.
Tom half ihr noch beim Aussteigen, dann kletterte er zurück in den Wagen, den Carlota ihrer Enkelin zur weiteren Verfügung überlassen – man konnte auch sagen: vererbt – hatte. Nachdem Carlota sich auch von Alejandro verabschiedet hatte, führte Maria Luisa ihre abuelita durch ein Gartentor einen blumengesäumten Steinweg entlang zu einem pittoresken Häuschen und klingelte.
Kurz darauf erschien ein weißhaariger Alter und klatschte vor Freude in die Hände, als er Carlota erkannte. Er wollte sie samt Enkelin sofort hereinbitten, doch Maria Luisa sprach mit ihm, und kurz darauf küsste sie ihre Großmutter und herzte sie, dass Tom fast rührselig wurde.
Hinter ihm rutschte Alejandro unruhig auf der Bank hin und her. Dass Maria Luisa und Carlota ausgestiegen waren und ihn mit Tom alleingelassen hatten, schien ihm nicht zu behagen.
Tom drehte sich zu ihm um und sagte: »Sie kommt gleich. Deine Schwester ist gleich wieder bei uns.«
Danach wurde Alejandro noch nervöser.
Tom war froh, als Maria Luisa zurückkam und einstieg. Irgendwie fand er keinen Draht zu dem Autisten. Sicher, wenn er mehr Zeit gehabt hätte … aber die war momentan Mangelware.
»Vielleicht setzt du dich besser nach hinten«, empfing er Maria Luisa. Mehr musste er nicht sagen, sie erkannte die Situation sofort.
Zwei Minuten später startete Tom den Land-Rover spanischer Bauart. Carlota stand noch mit Miguel in der offenen Tür und winkte zum Abschied.
»Denkst du, das geht in Ordnung?«, fragte Tom. »Was für ein Gefühl hattest du bei dem Burschen?«
»Der ›Bursche‹ wird sie auf Händen tragen. Du hättest ihn erleben müssen. Er wusste gar nicht, wohin mit seiner Begeisterung. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber die beiden hielten Händchen, als wir losfuhren. Ich glaube, Miguel war Carlotas Jugendliebe.«
»Na dann«, brummte Tom. Eine Sorge weniger. Leider blieben noch genug andere.
Er lenkte den Geländewagen Richtung Norden. Das einzige Ziel, das er dabei hatte, war, von niemandem aufgehalten zu werden und mit etwas Glück vor Einbruch der Dunkelheit einen Platz zum Übernachten zu finden.
Ersteres gelang, Letzteres wuchs sich zur Geduldsprobe aus.
***
»Wenn wir nicht bald eine Bleibe finden, hältst du bitte irgendwo an und wir übernachten im Wagen«, sagte Maria Luisa, als die Schatten jeden Sonnenstrahl verschluckt hatten.
Die Uhr am Armaturenbrett stand auf fünf vor zwölf – allerdings schon seit Jahren, denn sie war defekt. Trotzdem nahm Tom Ericson es als Omen für ihre Situation. Über die Gründe, aus denen die Indio-Bande hinter dem Artefakt her war, konnte er nur spekulieren. Was wollten sie mit dem mysteriösen Kristall anstellen? War das Artefakt von religiöser Bedeutung für sie und sie wollten es lediglich wieder dorthin zurückbringen, von wo es einst geraubt worden war?
Nein , entschied Tom. In
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