05 - Der Kardinal im Kreml
diktieren, wie ein Atomkrieg geführt wurde; in klassischen Begriffen war das der erste Schritt zum Sieg, und aus sowjetischer Sicht stellte die westliche Ansicht, ein «Sieg» im Atomkrieg sei unmöglich, schon den ersten Schritt zu einer westlichen Niederlage dar. Insgesamt aber hatten Theoretiker auf beiden Seiten schon immer den ganzen Komplex Atomkrieg für unbefriedigend gehalten und im stillen an Alternativlösungen gearbeitet.
Schon in den fünfziger Jahren hatten die USA und die Sowjetunion die Möglichkeit der Abwehr ballistischer Raketen zu erforschen begonnen, unter anderem in Sari Schagan in Südwestsibirien. In den späten Sechzigern stand ein funktionsfähiges sowjetisches System kurz vorm Einsatz, doch dann hatte das Aufkommen unabhängig lenkbarer Sprengköpfe die Arbeit von fünfzehn Jahren völlig zunichte gemacht - für beide Seiten. Bei dem Kampf zwischen Angriffs- und Verteidigungssystemen schien der Angriff immer die Überhand zu behalten.
Das aber hatte sich geändert. Laserwaffen und andere HochenergieProjektions-Systeme stellten in Verbindung mit Computern einen Quantensprung in eine neue Strategie dar. Eine funktionsfähige Verteidigung stellte nun, wie Bondarenkos Bericht Filitow sagte, eine reale Möglichkeit dar. Und was bedeutete das?
Es bedeutete, daß die nukleare Gleichung zur Rückkehr zum klassischen Gleichgewicht von Offensive und Defensive bestimmt war, und daß beide Elemente nun zu Teilen einer einzigen Strategie gemacht werden konnten. Die Berufssoldaten fanden dieses System theoretisch attraktiv
- wer sieht sich schon gerne als größter Mörder der Weltgeschichte? -, doch nun ergaben sich alle möglichen taktischen Probleme. Vorteil und Nachteil; Zug und Gegenzug. Ein amerikanisches strategisches Verteidigungssystem konnte die ganze Nuklearstrategie der Sowjetunion auf den Kopf stellen. Gelang es den Amerikanern, die SS-18 an der Ausschaltung ihrer landgestützten Raketen zu hindern, war der entwaffnende Erstschlag, auf den sich die Russen zur Begrenzung des Schadens an der Rodina verließen, nicht länger möglich. Das bedeutete auch, daß die Milliarden, die man in strategische Raketen gesteckt hatte, vergeudet waren.
Das war aber noch nicht alles. Hinter dem Schild der Strategischen Verteidigung konnte ein Feind erst einen entwaffnenden Erstschlag führen und dann den resultierenden Gegenschlag mit seinen Verteidigungssystemen abmildern oder gar ganz abwehren.
Diese Ansicht war natürlich vereinfachend. Kein System war jemals narrensicher -, und selbst wenn es funktioniert, sagte sich Mischa, wird die politische Führung schon einen Weg finden, es zum größtmöglichen Nachteil einzusetzen. Ein strategisches Verteidigungssystem fügte der nuklearen Gleichung einen neuen Unsicherheitsfaktor hinzu. Es war unwahrscheinlich, daß ein Land in der Lage sein würde, alle anfliegenden Kernsprengköpfe zu eliminieren, und der Tod von «nur» zwanzig Millionen Bürgern war auch für die sowjetische Führung unakzeptabel. Doch selbst ein rudimentäres SDI-System mochte genug Sprengköpfe ausschalten, um die ganze Entwaffnungsstrategie zu entwerten. Verfügten die Sowjets als erste über ein solches System, ließe sich die kärgliche Entwaffnungskapazität der Amerikaner leichter kontern als die sowjetische, und die Strategie, an der die Sowjets dreißig Jahre lang gearbeitet hatten, blieb unangetastet. Der sowjetischen Regierung öffnete sich die beste beider Welten - eine viel größere Zahl zielgenauer Raketen, mit denen sie die amerikanischen Sprengköpfe ausschalten konnte, und ein Schild zur Abwehr des Gegenschlages auf die Raketenstartanlagen der Reserve.
Die amerikanischen seegestützten Systeme ließen sich durch Zerstörung der GPS-Navigationssatelliten neutralisieren, ohne die sie zwar noch Städte zerstören, aber keine Raketensilos mehr angreifen konnten.
Oberst Michail Semjonowitsch Filitow hielt sich an ein Szenarium, das der typischen sowjetischen Fallstudie entsprach. Es brach zum Beispiel im Nahen Osten eine Krise aus, und während Moskau bemüht war, die Lage zu stabilisieren, griff der Westen - dumm und ungeschickt natürlich - ein und begann vor der Presse offen Spekulationen über eine nukleare Konfrontation anzustellen. Von den Nachrichtendiensten ging die Blitzmeldung nach Moskau, ein atomarer Schlag läge im Bereich des Möglichen. Die SS-18-Regimenter der Strategischen Raketenstreitkräfte gingen heimlich in Alarmbereitschaft, ebenso die neuen
Weitere Kostenlose Bücher