05 - Der Kardinal im Kreml
Selbstverständlich konnte sie das selbst nicht hören.
Nun war sie zur Rückkehr in ihren nutzlosen Leib verdammt, schwebte wieder in der grauen Masse vor ihren Augen und konnte die Glieder nur ziellos bewegen. Irgendwie verstand sie, daß ihre Imagination versucht hatte, sie zu schützen, zu befreien - nur um kläglich zu versagen. Doch abschalten ließ sich ihre Imagination, die nun destruktiv wurde, nicht. Sie weinte tonlos. Die Angst, die sie nun empfand, war schlimmer als Panik. Panik war wenigstens noch eine Flucht, eine Abwendung, ein Rückzug ins Ich. Doch das konnte sie nun nicht mehr finden; sie war Zeuge seines Todes gewesen. Swetlana war ohne Gegenwart und ganz bestimmt ohne Zukunft. Nun blieb ihr nur noch die Vergangenheit, und ihre Erinnerung suchte sich nur die schlimmsten Aspekte aus...
«Jawohl, nun sind wir in der letzten Phase», sagte der Arzt, griff nach dem Telefon und bestellte eine Kanne Tee. «Das ging leichter als erwartet.»
«Wieso? Sie hat uns doch noch gar nichts verraten», wandte Watutin ein.
«Keine Sorge, das kommt noch.»
Sie sah alle Sünden ihres Lebens. Das half ihr verstehen. Dies war die Hölle, und sie wurde bestraft. Genau, das mußte es sein. Und sie mußte mithelfen, an dem Tribunal, das in ihr stattfand, teilnehmen. Ihre Tränen flossen unentwegt, tagelang, als sie sich Dinge tun sah, die sie niemals hätte tun sollen. Jede Übertretung ihres Lebens erschien ihr in allen Einzelheiten vor Augen, besonders jene der vergangenen beiden Jahre... Irgendwie wußte sie, daß diese sie hierhergebracht hatten. Swetlana erlebte jeden Verrat am Mutterland noch einmal mit. Die ersten koketten Flirts in London, die heimlichen Treffs mit den ersten Männern, die Warnungen, nur nicht übermütig zu werden, und dann die Tage, an denen sie ihre Herkunft benutzt hatte, um durch die Zollkontrollen zu segeln, an denen sie ihr Spiel getrieben und sich an ihren ärgsten Verbrechen ergötzt hatte. Ohne es zu merken, stöhnte sie immer wieder: «Ich bereue...»
«So, jetzt wird's knifflig.» Der Arzt setzte Kopfhörer auf, nahm am Steuerpult einige Justierungen vor. «Swetlana...» flüsterte er ins Mikrophon.
Anfangs hörte sie ihn nicht. Erst nach einer Weile sagten ihr ihre Sinne, daß da etwas nach ihr rief, beachtet werden wollte.
«Swetlana...» rief die Stimme. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie verdrehte den Kopf, suchte.
«Swetlana...» flüsterte es wieder. Sie hielt so lange wie möglich den
Atem an, befahl ihrem Körper Reglosigkeit, doch er betrog sie aufs neue. Ihr Puls jagte, das Pochen des Blutes in ihren Ohren übertönte das Geräusch. Sie stöhnte verzweifelt, fragte sich, ob sie sich die Stimme nur eingebildet hatte, fragte sich, ob alles nur noch schlimmer wurde. Oder gab es vielleicht Hoffnung...?
«Swetlana...» Kaum mehr als ein Flüstern, aber laut genug, um Gefühle auszudrücken. Die Stimme klang so traurig, so enttäuscht. Swetlana, was hast du getan?
«Nichts, nichts -» stieß sie hervor, konnte aber ihre eigene Stimme immer noch nicht hören. Erneutes Schweigen belohnte sie. Nach einer Ewigkeit schrie sie: «Kommen Sie doch wieder, bitte, kommen Sie zurück!»
«Swetlana», wiederholte die Stimme endlich, «was hast du getan...?» «Es tut mir leid...» sagte sie tränenerstickt.
«Was hast du getan?» Wieder die Frage. «Was war das für ein
Film...?»
«Ja!» antwortete sie - und gestand alles.
«Zeit elf Stunden einundvierzig Minuten. Verfahren abgeschlossen.»
Der Arzt stellte das Bandgerät ab und knipste dann das Licht im Raum
mit dem Becken mehrmals an und aus. Ein Taucher im Tank bedeutete
mit einer Geste, daß er verstanden hatte, und stieß Versuchsperson
Wanejewa eine Injektionsnadel in den Arm. Als ihr Körper schlaff
geworden war, holte man sie heraus. Der Arzt verließ die Steuerkabine,
um nach ihr zu sehen.
Als er sie erreichte, lag sie auf einer Bahre; den Anzug hatte man ihr
schon abgestreift. Er blieb neben der bewußtlosen Frau sitzen und hielt
ihre Hand, als ein Assistent ihr ein mildes Stimulans injizierte. Hübsch
ist sie, dachte der Arzt. Ihr Atem ging schneller. Er winkte den Assistenten hinaus. Nun waren die beiden allein.
«Hallo Swetlana», sagte er in seinem sanftesten Tonfall. Die blauen
Augen gingen auf, sahen die Deckenlampe und die Wände. Dann wandte
sie ihm den Kopf zu.
Er wußte, daß er sich nun zu weit in die Sache einließ, aber er hatte
lange an diesem Fall, der bislang wohl wichtigsten Station seines Programms,
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