05 - Der Schatz im Silbersee
durch eine Naturkraft. Durch die Luft, also Sturm? Nein. Durch Feuer? Auch nicht. Also durch das Wasser!“
„Deine Gedanken sind gut und klug; aber weiter kommst du nicht!“
„Wollen sehen! Wo hast du genug Wasser, um so viele Menschen zu töten? Im See. Werden diese Leute in den See gehen? Nein. Also muß der See zu den Leuten gehen; er muß seine Fluten plötzlich in den Cañon ergießen. Wie ist das möglich? Es liegt doch ein hoher, starker Damm dazwischen! Nun, dieser Damm ist vor alter Zeit nicht gewesen; er ist gebaut worden, und dabei hat man ihm eine Einrichtung gegeben, durch welche er plötzlich geöffnet werden kann, so daß der trockene Cañon sich augenblicklich in einen reißenden Strom verwandelt. Habe ich es erraten?“
Trotz der Ruhe, welche ein Indianer, und besonders ein Häuptling, in allen Lagen zu bewahren hat, sprang der ‚Große Bär‘ auf und rief: „Herr, bist du allwissend?“
„Nein, aber ich denke nach.“
„Du hast es erraten; wirklich, du hast es erraten! Aber wie bin ich zu diesem Geheimnis gekommen?“
„Durch Erbschaft.“
„Und wie wird der Damm geöffnet?“
„Wenn du mir erlaubst, nachzuforschen, so werde ich dir diese Frage sehr bald beantworten.“
„Nein, das darf ich dir nicht erlauben. Aber kannst du auch erraten, weshalb dieser Damm errichtet worden ist?“
„Ja.“
„Nun?“
„Aus zwei Gründen. Erstens zur Verteidigung. Die Eroberer der südlichen Gegenden kamen alle von Norden. Dieser große Cañon war ein beliebter Weg der Eroberer. Man baute den Damm, um ihn zu sperren und das Wasser plötzlich loslassen zu können.“
„Und der zweite Grund?“
„Der Schatz.“
„Der Schatz?“ fragte der Häuptling, indem er einen Schritt zurücktrat. „Was weißt du von ihm?“
„Nichts; aber ich errate viel. Ich sehe den See, seine Ufer, seine Umgebung und denke nach. Bevor es den Damm gab, war kein See vorhanden, sondern ein tiefes Tal, durch welches die Bäche, die es heute hier noch gibt, in den Cañon flossen, den sie sich gegraben hatten. Eine reiche Nation wohnte hier; sie kämpfte lange Zeit gegen die angreifenden Eroberer; sie erkannte, daß sie nachgeben, fliehen müsse, vielleicht einstweilen nur. Sie vergrub ihre Kostbarkeiten, ihre heiligen Gefäße, hier in dem Tal und errichtete den Damm, damit ein großer See entstehe, dessen Flut der unbesiegbare, stumme Wächter dieses Schatzes sei.“
„Schweig, schweig, sonst enthüllst du alles, alles!“ rief der ‚Große Bär‘ erschrocken. „Sprechen wir nicht von dem Schatz, sondern nur von dem Damm. Ja, ich kann ihn öffnen; ich kann tausend und mehr Utahs ersäufen, wenn sie sich im Cañon befinden. Soll ich es tun, wenn sie kommen?“
„Um Gottes willen, nein! Es gibt noch andre Mittel, sie zu bezwingen.“
„Welche? Die Waffen?“
„Ja, und sodann die Geiseln, welche dort im Gras liegen. Es sind die berühmtesten Häuptlinge der Utahs. Diese werden, um ihre Anführer zu retten, auf manche Bedingung, die wir machen können, eingehen. Deshalb haben wir sie ergriffen und mitgebracht.“
„Dann müssen wir diese Gefangenen in Sicherheit bringen.“
„Hast du einen passenden Ort?“
„Ja; sie mögen erst essen und trinken; dann werden wir sie nach demselben schaffen.“
Die Gefangenen bekamen die Hände frei; sie erhielten Fleisch und Wasser und wurden dann wieder gefesselt. Nachher wurden sie mit Hilfe einiger Timbabatschen in den am Ufer liegenden Kanus nach der Insel gebracht. Old Firehand, Shatterhand und Winnetou begaben sich auch hinüber. Sie waren wißbegierig, das Innere des Bauwerkes zu sehen. Dieses bestand oberhalb nur aus einem Erdgeschoß, welches durch eine Mauer in zwei Abteilungen getrennt wurde. In der einen befand sich der Herd, und die andre bildete den Wohnraum. Dieser war außerordentlich dürftig ausgestattet. Eine Hängematte und ein primitives Lager, das war alles.
„Und hier sollen die Gefangenen bleiben?“ fragte Old Shatterhand.
„Nein, denn hier hätten wir sie nicht sicher genug. Es gibt einen noch viel bessern Ort.“
Er schob das Lager auf die Seite. Dieses bestand aus einer Unterlage von Querhölzern mit darübergebreiteten Schilfmatten und Decken. Unter dem Lager wurde eine viereckige Öffnung frei, durch welche ein eingekerbter Baumstamm als Leiter nach unten führte. Der Häuptling stieg hinab; Old Shatterhand folgte ihm, und die andern sollten nun die Gefangenen einzeln hinablassen.
Durch die Öffnung fiel so viel Licht in
Weitere Kostenlose Bücher