0504 - Lorna, die Löwenfrau
wir näherten uns bereits dem Ort Kingston upon Thames. Von dort aus mußten wir nach Osten fahren in Richtung Wimbledon.
Die Coombe Lane, die die Nummer 238 trug, war um diese Zeit so gut wie leer. Bill konnte seinem Porsche die Sporen geben und sprach während der Fahrt davon, daß er bereits für einen neuen Wagen schwärmte.
»Wieder ein Porsche?«
»Nein.« Der Reporter grinste. »Der neue BMW der 700er Reihe. Das ist ein Hammer.«
»Wer ihn sich leisten kann.«
»Ich träume davon.«
»Wie ich dich kenne, wirst du die Träume bald verwirklichen.«
Bill hob die Schultern. »Was willst du machen, John? Unser Sohn wird größer, und ein Porsche wächst eben nicht mit. Das ist ein hervorragendes Auto, aber auf dem Rücksitz ist kaum Platz.«
»Was sagt Sheila zu deinen Plänen?«
»Sie weiß davon nichts.«
Ich lachte. »Das ist gut, Bill. Sie wird dir schon einiges dazu sagen, wenn du dir wieder ein neues Auto kaufen willst.«
»Mal sehen.«
Es war gut, daß wir uns privat unterhalten hatten. So war etwas von der Spannung genommen, die uns beide festgehalten hatte.
Noch wußten wir nicht mehr als diese Adresse an der südlichen Peripherie der Millionenstadt London.
Was war diese Klinik? Eine Fluchtburg? Ein wahres Dämonennest? Eigentlich alles, wenn ich die Fakten addierte, die uns bisher bekannt waren.
Bill fuhr jetzt langsamer. Wir waren in eine Gegend gekommen, wo wir die Coombe Lane bald in Richtung Norden verlassen mußten. Vor dem weltbekannten Tennis-Gelände mußten sie wieder abbiegen.
Als die ersten Hinweisschilder erschienen, stoppte Bill und schaltete die Innenbeleuchtung ein. »Schau doch mal auf der Karte nach.«
Sie lag ausgebreitet auf meinen Knien. Mit dem über das Papier schleifenden Finger verglich ich die gefahrene Strecke und nickte Bill zu. »Noch etwa eine Meile.«
»Ist ein Weg eingezeichnet?«
»Ja, aber…«
»Okay, das wird eine Privatstraße sein.« Der Reporter startete und gab wieder Gas.
Wir rollten dahin. Satt und breit. Der Porsche war wunderbar. Er lag auf der Straße wie ein Brett. Auch der Vergleich mit einem Raubtier aus Blech traf zu.
Wir erreichten den Weg und sahen auch das Schild. Weiß leuchtete es. Die Schrift konnte einfach nicht übersehen werden, denn sie strahlte auch in der Dunkelheit.
Bill nickte. »Dann wollen wir mal.« Er lenkte den Porsche auf den asphaltierten Privatweg, den rechts und links dichte Büsche säumten, die später verschwanden und von hohen Laubbäumen abgelöst wurden. Die Gegend bekam einen gepflegten, parkähnlichen Charakter. Wir wußten nicht, wer oder was uns erwartete. Da unsere Ankunft so spät wie möglich bemerkt werden sollte, fuhr Bill ohne Licht weiter.
Schwammige Dunkelheit, vermischt mit feuchten Dunstschleiern, schluckte uns.
Mir war das zu riskant. Ich bat meinen Freund, lieber anzuhalten.
»Tut mir leid um den Rasen!« Bill riß das kleine Lenkrad nach links und fuhr in die Lücke zwischen zwei mächtigen Bäumen. Mit ihren dicht belaubten Kronen gaben sie dem Porsche eine gute Deckung.
Gemeinsam stiegen wir aus.
Feuchte Luft drang in unsere Lungen. Der Rasen war naß und sah klebrig aus. Es hatten sich auch Nebelschleier gebildet, die ihren Weg über den Rasen fanden und so aussahen, als würden sie sich an den einzelnen Halmen festklammern.
Wir standen in einem einsamen Gelände, dennoch fühlte ich mich nicht verlassen. Irgend etwas war anders als sonst. Vielleicht lauerte eine Gefahr hinter den dicken Baumstämmen oder hatte sich in die Erde unter dem Rasen verkrochen.
Ich war vorgegangen und neben einem Buchenstamm stehengeblieben. Die Klinik, lag schräg vor mir. Ein mächtiges Gebäude und dennoch kein Klotz. Es mußte früher einmal ein Herrenhaus gewesen sein. Ich erkannte Erker und auch kleine Türmchen an den Seiten, etwas verspielt.
Es stand in der Dunkelheit, umgeben vom Schwarz der Nacht, wobei der Nebel sich ebenfalls genähert hatte und dicht vor der Fassade als langer Watteschleier girlandenförmig vom Boden hochstieg, um sich an der Hauswand festzukrallen.
»Wirkt wie eine unheimliche Filmkulisse«, meinte Bill, der neben mir stehengeblieben war.
»Ja, möglich.« Ich streckte meinen Arm aus. Ein kaum sichtbares Spinnennetz strich über meine Hand. »Schau dir das eine Fenster dort oben an. Es ist erleuchtet.«
Ich hätte es auch mit einem runden, gelben Auge vergleichen können. So ähnlich war es in der Hauswand zu sehen, und es wirkte dabei wie ein Ausschnitt.
Ansonsten
Weitere Kostenlose Bücher