0504 - Lorna, die Löwenfrau
Tritt schleuderte Suko die Löwin bis zur Tür. Sie fing an zu wackeln, als Lorna vor das Holz krachte, sich wieder aufrichtete und in die Mündung der Waffe schaute.
Obwohl sie mehr Tier als Mensch war, besaß sie dennoch den menschlichen Verstand. Sie wußte genau, was es zu bedeuten hatte, wenn jemand eine Waffe auf sie gerichtet hielt.
Mit ihren kalten Raubtieraugen fixierte sie das dunkle Loch der Mündung.
»Es reicht!« sagte Suko. »Wie ich gesehen habe, verstehst du es, dich zu verwandeln. Jetzt zeig mir, daß es auch umgekehrt geht. Verwandle dich wieder zurück!«
Suko hoffte, daß sie auf seine Forderung einging. Er wollte mit ihr reden, nur Lorna konnte ihm helfen, die Spur derjenigen Person zu finden, die hinter allem stand.
Sie tat nichts.
Suko verstärkte den »Druck«. »Es sind geweihte Silberkugeln«, erklärte er, »keine normalen Bleigeschosse. Ich würde an deiner Stelle tun, was ich verlange.«
Sie senkte den Kopf. Auch die Mähne bewegte sich dabei und rutschte vor ihr Gesicht.
Wahrscheinlich sollte Suko ihre Augen nicht sehen, denn Lorna war einfach nicht bereit, aufzugeben.
Sie griff an.
Und sie stürmte auf den Inspektor zu, hatte ihren Kopf in die Höhe gedrückt. Suko hörte das mörderische Fauchen und hätte jetzt schießen müssen.
Er tat es nicht.
Lorna war ihm einfach zu wichtig. Er brauchte ihre Aussage.
Deshalb huschte er genau in dem Moment zur Seite, als Lorna ihn fast erreicht hatte.
Die Löwenfrau jagte an ihm vorbei. Sie stoppte auch nicht mehr.
Als sie wieder den Boden berührte, gab sie sich noch einmal Schwung, verlängerte den Sprung zu einem Halbbogen, der sie auf das offene Fenster zutrug.
Sie verschwand.
Suko hörte einen heftigen Schrei. Den hatte Ab Duncan ausgestoßen, der noch immer auf dem Dach stand, in die Tiefe schaute und den Körper dem Boden entgegenfliegen sah.
Konnte Lorna das überleben?
Weder Suko noch Ab wußten eine Antwort. Der Chinese aber befand sich Sekunden nach dem Verschwinden bereits auf dem Weg nach unten. Er hatte den Lift genommen. Mit ihm rauschte er ins Erdgeschoß, wo er den Flur menschenleer fand.
Das Haus war von einer kleinen, auch bepflanzten Grünfläche umgeben. In sie war die Löwenfrau wahrscheinlich hineingefallen.
Auch die Büsche würden nicht die Kraft haben, einen fallenden Körper aus dieser Höhe aufzuhalten.
Suko trat nach draußen – und hinein in die Stille. Er hörte kein Stöhnen kein Schreien oder Fauchen. Über ihm brannte die Haustürleuchte. Ihr Licht fiel als Kegel auf den vor der Tür wartenden Inspektor, der seine Beretta auch weiterhin festhielt.
Sichernd trat er einige Schritte vor, um sich dann zu drehen, weil er an der Hausfront hochschauen und berechnen wollte, wo die Löwenfrau aufgeschlagen war.
Er wandte sich nach rechts. Das Buschwerk wuchs wie eine dunkle Grenze. Weit oben, noch über dem Dach, fiel der feine Lichtschleier aus den Penthousefenstern.
Sie kamen Suko so ungemein weit entfernt vor, fast schon wie die Sterne. »Lorna!« sagte er flüsternd. »Hast du es überstanden?«
Er bekam wieder keine Antwort, aber er sah jetzt die Mulde innerhalb der Büsche. Genau dort mußte die Löwenfrau gelandet sein.
Suko holte seine Lampe hervor.
Der Strahl glitt durch das grüne Buschwerk. Suko leuchtete tiefer und entdeckte dabei eine gekrümmte Hand, auf deren Rücken bereits das Fell wuchs.
Dort lag Lorna!
Suko wühlte sich den Weg zu ihr. Er trat die Pflanzen nieder und starrte die Löwenfrau an.
Lorna sah aus, als hätte sie sich zum Schlafen hingelegt. Sie lag sogar auf dem Rücken, aber sie rührte sich nicht. War sie tot?
Suko berührte sie leicht mit der Fußspitze. Ein Zucken rann über den Körper, und ein dünner Faden Blut sickerte aus dem Raubtiermaul.
Flüsternd klingende Worte trafen Sukos Ohren. Die Löwenfrau wollte noch etwas sagen.
»Der Tod ist nicht stärker. Wir haben ihn geschafft. Wir sind Mensch und Tier, wir…«
»Du lebst?«
Da öffnete sie die Augen und redete mit menschlicher Stimme weiter. »So etwas kann uns nicht umbringen.«
»Weshalb greifst du mich nicht an? Du wolltest doch meinen Tod!«
»Ich… ich kann nicht.«
Suko überraschte diese Ehrlichkeit. Er kam allerdings nicht klar mit ihr. »Was ist passiert?«
Ihr Gesicht bewegte sich. Suko kannte die Rückverwandlungen von Werwölfen. Etwas Ähnliches spielte sich auch hier ab. Er konnte zuschauen, wie das Fell allmählich verschwand. Es schien von der Haut aufgesaugt zu werden.
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