0506 - Die Spur der Ratte
sinkende Schiff«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Das ist nicht nur ein dummer Spruch. Irgendwie fühlen sie eine Gefahr lange vor ihrem Eintreten. Vielleicht ist ihnen klar geworden, daß jetzt unser Gegenschlag erfolgt, und sie haben sich fluchtartig in Sicherheit gebracht.«
Zamorra schüttelte den Kopf. »Wir sind keine Gefahr, die die ganze Existenz ihrer Art bedroht. Wäre ich Ratte, würde ich mich durchaus auf einen Kampf mit der vermeintlichen Beute, also mit uns, einlassen.«
»Du bist aber keine Ratte«, erinnerte Nicole.
»Ich versuche nur, etwas ›rattisch‹ zu denken.«
»Wie auch immer, sie sind verschwunden. Wohin? Das werden wir erst feststellen können, wenn wir wissen, wie sie hierher gekommen sind. Suchen wir also weiter. Vielleicht halten sie sich auch irgendwo in der Nähe versteckt und warten auf die beste Gelegenheit, über uns herzufallen. Ist der Dhyarra noch aktiv?«
»Er ist es«, versicherte Zamorra.
Sie gingen weiter. Es war ein seltsames Gefühl, sich auf eigenem Grund und Boden zu bewegen, in den eigenen Räumen, und doch durch größtenteils unbekanntes Gebiet - mehr noch: durch Feindesland. Aber dann hatten sie die Regenbogenblumen erreicht, und waren immer noch nicht auf die Ratten gestoßen.
Zamorra sah zur Kuppel hinauf. Die auf unbegreifliche Weise frei in der Luft schwebende künstliche Mini-Sonne war eine dunkel glosende Kugel, etwa so, als betrachte ein Astronom die echte Sonne durch einen Schwarzfilter. Die Lichtquelle hatte in der Tat auf »Nacht« geschaltet. Bisher hatte Zamorra sich noch nicht die Zeit genommen, einen kompletten Tag-Nacht-Rhythmus dieses Gebildes mitzuerleben, aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß es sich keinesfalls um einen 24-Stunden-Rhythmus handelte; auch nicht um den 25-Stunden-Rhythmus, wie er Menschen von Natur aus eigen ist und wie sie ihn durchleben, wenn sie von jeder äußeren Zeitmessung unbeeinflußt sind. Der Tag-und Nachtwechsel mußte hier in kürzeren Abständen erfolgen.
Die mannsgroßen Blütenkelche waren fast völlig geschlossen. Von ihrem Oszillieren war bei dieser schwachen Beleuchtung nichts zu bemerken; nur da, wo die Lichtkegel der Taschenlampe die Blütenblätter erfaßten, leuchteten diese in ihrem wunderbaren Farbenspiel auf.
Der Nacht-Zustand hatte aber nach Zamorras Erkenntnissen keinen Einfluß auf die Transport-Fähigkeit der Blumen. Sie funktionierte auch bei Dunkelheit. Zumindest bei den Blumen im Château Montagne…
Abermals sah er zu der Mini-Sonne hinauf. War sie nicht etwas heller geworden in den letzten Minuten? Kündigte sich ein neuer »Tag« an? Zamorra fragte sich, wie lange es diese Blumen hier schon gab und wer sie gepflanzt hatte. Leonardo deMontagne? Daran konnte Zamorra nicht so recht glauben. Denn dann hätte er spätestens in seiner Zeit als Fürst der Finsternis die Möglichkeit besessen, das nach außen hin gegen alle dämonischen Kräfte abgeschirmte Château von innen her zu erobern. Also konnte er von diesen Blumen und ihren magischen Fähigkeiten keine Ahnung gehabt haben, und jemand anderer mußte für ihre Existenz gesorgt haben. Jemand, der zugleich diesen extrem hohen Raum im Fels geschaffen hatte, der sich von allen anderen, gerade mal zweieinhalb bis allerhöchstens drei Meter hohen Räumen unterschied. Jemand, der diese unbegreifliche Mini-Sonne konstruiert und »aufgehängt« hatte, die auf rätselhafte Weise seit vielleicht schon Jahrhunderten leuchtete und nie abstürzte…
Zamorra mußte sich gewaltsam aus seinen Gedanken reißen. Er leuchtete den Boden zwischen den Blumen aus. Weiche Erde - woher bekam sie ihren Dünger, damit die riesigen Blumen auf Dauer gedeihen konnten? In dieser weichen Erde gab es zwar die Abdrücke von Schuh- und Stiefelsohlen…
Aber nichts sonst.
Keine Spuren von Rattenpfoten.
Zamorra beugte sich vor. Er stellte die Taschenlampe senkrecht auf die weiche Erde. Sie hatte in etwa das Gewicht einer Ratte von der Größe, wie Raffael sie angeschleppt hatte. Es gab einen entsprechenden tiefen Eindruck im Boden.
Ratten, auch wenn sie wesentlich leichter waren, hätten ebenfalls Abdrücke hinterlassen müssen.
Nichts.
Demzufolge waren die Biester nicht auf diese Weise ins Château eingedrungen. Aber wie dann?
***
Dr. Mathieu war aus allen Wolken gefallen, als Pierre Robin ihn über den Vorfall informierte. »Barin wird toben«, fürchtete er. Aber der Gemütszustand des Staatsanwaltes interessierte Robin wenig. Das Verschwinden des
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