051 - Die Hexe und ihr Henker
streicheln und vorwärtszuziehen.
Sie konnte nicht stehenbleiben und erst recht nicht umkehren. An die Männer im Salon verschwendete sie keinen Gedanken. Ihr Geist war völlig gefangen von diesen traurigen Tönen, die sie nicht ängstigten, dafür aber um so mehr faszinierten.
Kalt war die Wand, die Vicky mit der Hand berührte, aber das spürte sie kaum. Sie stieg langsam die Stufen hinunter und gelangte in einen düsteren Gang mit etlichen unübersichtlichen Nischen. Obwohl in jeder eine Gefahr lauern konnte, kam in dem Mädchen keine Angst auf.
Sie wollte die Frau sehen, die so traurig sang. Es hätte ihr zu denken geben müssen, daß auf Barrington Castle seit langem keine Frau mehr lebte, doch die dünne Stimme schaltete ihr Mißtrauen aus und lockte sie immer weiter fort von Tony Ballard und den anderen.
Der Gang machte einen Knick nach rechts, und Vicky Bonney gelangte an eine Gittertür. Sie umschloß die dicken Eisenstäbe mit ihren schlanken Händen und blickte zwischen den Stäben hindurch.
Ein sanfter Druck genügte, schon öffnete sich die Tür und gab den Weg in die Familiengruft der Barringtons frei…
***
Ein feuerroter Schein fiel auf Roxanes Gesicht, und als sie den brennenden Kegel sah, der in ihrer Nähe entstand, wußte sie, was das zu bedeuten hatte.
»Metal!« preßte sie aufgeregt hervor. Obwohl die Fesseln schmerzhaft in ihre geschwollenen Handgelenke schnitten, unternahm sie den aussichtslosen Versuch, sich zu befreien. Sie hatte Angst vor Mago, der soeben in diesem Feuerkegel materialisierte.
Der in Ketten gelegte Silberdämon starrte durch das Netz, das auch seinen Kopf einhüllte. Mago trat aus dem brennenden Kegel, und die Hexe aus dem Jenseits hielt den Atem an. Schlimmer konnte es für sie nicht kommen.
Ihr Name stand seit langem ganz oben auf der Liste des Jägers der abtrünnigen Hexen. Immer wieder war es ihr gelungen, ihm und seinen gefährlichen Schergen zu entkommen. In allen erdenklichen Dimensionen hatte sich dieses Katz- und-Maus-Spiel zugetragen. Manchmal hatte Roxane ein schreckliches Ende nur noch im allerletzten Augenblick abwenden können. Aber sie hatte es doch immer irgendwie geschafft, am Leben zu bleiben.
Doch heute… Sie war gefesselt und schwach, hatte ihre weißen Hexenkräfte verloren, konnte sich nicht befreien und nicht wehren. Sie war Mago diesmal rettungslos ausgeliefert.
Das granitgraue Gesicht des Schwarzmagiers verzerrte sich zu einem erfreuten, triumphierenden Grinsen. »Ich muß gestehen, das ist eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe«, sagte Mago zischelnd. »Roxane, Mr. Silvers Freundin, hier auf Protoc gefangen! Ich habe eine große Neuigkeit für dich, Hexe! Mr. Silver lebt nicht mehr. Er starb durch dieses Schwert. Bricht dir das nicht das Herz?«
Der Schwarzmagier lachte grausam und hob das Höllenschwert.
»Auch Oda lebt nicht mehr. Sie fiel ebenfalls meinem Schwert zum Opfer. Endlich ist es mir gelungen, reinen Tisch zu machen, und es freut mich ganz besonders, daß mir das Schicksal nun auch noch Mr. Silvers Freundin beschert. Das Höllenschwert wird euch im Tod wieder vereinen!«
Mago trat vor, sein Blick war gnadenlos. Kraftvoll holte er mit dem Schwert aus. Ein einziger Streich sollte die verhaßte Hexe vernichten…
***
In dämmrigen Nischen standen steinerne Sarkophage. Alle trugen das Familienwappen der Barringtons, und die Namen der Toten waren in Gold darauf graviert.
Als Vicky Bonney die Gruft betrat, schloß sich hinter ihr die Gittertür, ohne daß sie es bemerkte. Ein unheimliches Wispern und Raunen geisterte durch den unterirdischen Raum, in den sich noch nie ein Sonnenstrahl verirrt hatte.
Jetzt erst fiel dem blonden Mädchen auf, daß der lockende Gesang verstummt war. Modergeruch legte sich schwer auf ihre Lunge. Das Wispern und Raunen verwehte, dafür vernahm Vicky Bonney ein hartes Knirschen.
Eine der schweren steinernen Sarkophagplatten bewegte sich langsam und ruckartig zur Seite. Noch deckte die Platte den Totenbehälter ab, doch mit dem nächsten Ruck entstand eine schmale Öffnung, durch die sich bleiche Finger mit langen, krallenartigen Nägeln schoben.
Es war Lady Agnes Barringtons Sarkophag, der sich mehr und mehr öffnete. Ihr Gesang lockte Vicky Bonney in die Familiengruft, und das blonde Mädchen war davon immer noch gebannt.
Die schmale Hand der lebenden Toten drückte den Steindeckel weiter zur Seite und klammerte sich an den Rand des Sarkophags. Bald war die Öffnung so groß,
Weitere Kostenlose Bücher