0511 - Der Fluch der Baba Yaga
konnte, fuhren die Hexen fort: »Niemand braucht zu sehen, der Augen besitzt. Also laß dir eine andere Bitte einfallen, die wir dir vielleicht erfüllen werden.«
»Nein!« sagte Stygia schroff, und sie war nahe daran, auf ihre Autorität als Fürstin der Finsternis hinzuweisen. Aber wie sollte sie diese Autorität hier in diesem Kreise durchsetzen? Sie stand allein, niemand würde ihr helfen; niemand legte sich mit den Thessalischen Hexen an.
Und dabei war sie doch selbst einmal eine von ihnen gewesen. Sie stammte schließlich von ihnen ab…
»Nein!« wiederholte sie. »Nichts anderes, und erst recht nicht als Bitte. Ich fordere mein Recht. Ich will das Auge. Ich brauche es.«
»Es ist nicht dein Eigentum«, klang es ihr entgegen, und wieder war nicht festzustellen, welche der drei fleckigen Alten gesprochen hatte.
»Eures aber auch nicht!« entgegnete Stygia. »Es gehört uns allen, die wir vom gleichen Geschlecht sind. Und jetzt beanspruche ich es. Wenn ich damit fertig bin, könnt ihr es wieder in eure Obhut nehmen! Aber ihr könnt mir nicht mein Recht verwehren.«
»Du sprichst respektlos. Das gefällt uns nicht.«
»Ihr«, fauchte Stygia. »Ihr sitzt seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in dieser Höhle. Ihr habt Staub und Schimmel angesetzt, die Spinnen weben euch mit ihren Netzen ein, und der Efeu umrankt euch. Was tut ihr? Nichts! Ihr habt Kraft und Macht, aber ihr setzt sie nicht ein, ihr laßt eure Gabe verkümmern. Statt zu herrschen, gefallt ihr euch in der Vergessenheit. Ich aber habe etwas aus mir gemacht. Ich bin gegangen…«
»… was Verrat war…«
»… und habe meine Kräfte genutzt, ich bin aufgestiegen bis zum höchsten Rang, den eine von uns jemals erreichen kann. Mir ist gelungen, wovon euresgleichen in vielen Jahrtausenden nur träumen können und wollen. Und ihr, die Schlafmützen, verlangt Respekt und wagt es, mir zu verweigern, was mir zusteht?«
Es schien kälter und finsterer zu werden. »Zügele deine lose Zunge, Stygia. Es interessiert sich niemand für deine Verdienste außerhalb unserer Zuflucht. An diesem Ort sind nur deine Verdienste hier in unserer Wohnstätte von Belang. Sag, was kannst du uns nennen?«
Stygia lachte bitter auf. »Es ist nicht zu fassen«, murmelte sie. »Sie sind verrückt geworden, diese alten Weiber. Die lange Einsamkeit hat sie um den Verstand gebracht.«
Sie straffte sich.
»Nun gut. Ich werde das Auge nehmen. Ich erwies euch die Höflichkeit, danach zu fragen. Aber ich brauche eure Zustimmung nicht. Ihr habt kein Recht, mir das Auge zu verweigern.«
Sie setzte sich in Bewegung, wollte an den Hexen vorbei.
»Hier gilt unser Wort«, klang es ihr entgegen. »Wir können dich töten, wenn du gegen unseren Willen verstößt.«
Aber Stygia war sicher, daß sie das nicht tun würden. Nicht, wenn sie die drei Alten nicht direkt angriff. Und das hatte sie gar nicht nötig. Sie wußte, wo sie das Auge finden konnte. Sie brauchte bloß zuzugreifen, den lösenden Spruch zu formulieren und…
...und als sie weiterging, machte eine der Thessalischen Hexen eine rasche, komplizierte Handbewegung. Im nächsten Moment stand Stygia in hellen Flammen!
***
Die Baba Yaga war in ihrer Hütte zurückgekehrt. Sie war schon viel näher an die Hauptstadt herangekommen, als die Menschen ahnten, und sie konnte sich sehr schnell in den Weiten des Landes bewegen. Sie konnte hier und da erscheinen, wie sie es gerade wollte, und daß sie so eine erkennbare Verwüstungsstrecke in einer ganz bestimmten Zeitspanne zurückgelegt hatte, war nichts anderes als ein Trick. Sie hätte viel schneller vorwärtskommen können, aber sie hatte für ihren Gegner berechenbar sein wollen. Nur dadurch war gewährleistet, daß er ihr in die Falle ging. Und - warum sollte sie sich mehr anstrengen als nötig?
Sie konnte Zamorra und den anderen jetzt nicht sehen. In deren Nähe brannte keine offene Flamme, kein Feuer. Aber die Yaga besaß jetzt Hühnerknochen vom Mahl der beiden Männer.
Nun konnte sie sie kontrollieren; es gehörte zu ihrer Magie. Auf der anderen Seite der Erdkugel hätte man es vielleicht Voodoo genannt; es wirkte ähnlich.
Die Baba Yaga begann ihre Beschwörung.
***
Boris Saranow hatte es sich mit voller Körperbreite auf der Rückbank des Shiguli-Niva bequem gemacht. Er begann seine Pfeife zu stopfen und setzte sie in Brand; der Innenraum des Geländewagens, berühmt für Robustheit des Fahrwerks und berüchtigt für schlechte Bremsen, füllte sich mit ätzendem
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