0515 - Schreie aus dem Werwolf-Brunnen
brauche ich erst mal einen Schnaps«, sagte er mit rauher Stimme. »Das ist ja kaum zu fassen, das ist der reine Wahnsinn.«
Er holte eine Flasche hervor und fuhr herum. »Stimmt das auch alles, was Sie mir gesagt haben?«
»Hier, Sie können sich davon überzeugen.« Ich holte den Ausweis hervor und zeigte ihn dem Wirt.
Der nahm ihn mit spitzen Fingern entgegen, verglich das Foto mit meinem Gesicht und nickte. »Es scheint so zu sein«, flüsterte er. »Ein Polizist vom Yard.«
»Und nicht ohne Grund hier.«
»Um was geht es?«
»Wie gesagt, ich suche meinen Freund und Kollegen. Die Chinesen, die hier wohnen, haben ihn um Hilfe gebeten.«
»So?«
»Sie wissen nicht zufällig, wogegen er ihnen hätte helfen können?«
Redburn schüttelte den Kopf.
»Nein.« Er kippte den Schnaps, einen Magenbitter, wie ich roch.
Dann wischte er über seine Lippen. »Tut mir leid, Mr. Sinclair, ich habe mit diesen Leuten keinen Kontakt gehabt. Ich weiß nichts.«
Die beiden Schachspieler hatten aufgehört zu spielen. Einer von ihnen drehte sich um. »Vielleicht hängt es mit den Verschwundenen zusammen, D.C.«
»Ach, Unsinn.«
»Wer ist denn verschwunden?«
»Einige dieser Chinesen.«
»Und? Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«
Redburn schaute mich aus großen Augen an. »Die Polizei? Wegen ein paar verschwundener Chinesen?«
»Sorry«, sagte ich sarkastisch. »Ich hatte vergessen, wie Sie es mit den anderen Menschen halten.«
»Was hätten wir denn tun sollen? Die sind verschwunden, weggelaufen, weil sie es nicht mehr aushielten.«
»Davon sind Sie überzeugt?«
Er hielt meinem prüfenden Blick stand. »Ja, davon bin ich überzeugt, Mr. Sinclair.«
»Aber ich nicht.«
»Und was ist Ihre Meinung?«
»Ganz einfach. Die Chinesen brauchen nicht unbedingt verschwunden oder weggelaufen zu sein. Es besteht die Möglichkeit, daß sie Opfer eines Verbrechens geworden sind.«
Er lachte. »Hier in Fillingrow?«
»Warum nicht?«
»Nein, hier geschehen keine Verbrechen. Wir sind eine saubere Ortschaft, wenn Sie verstehen.«
»Immer. Und Sie sorgen dafür.«
Redburn grinste. »Sagen wir mal so. Ich trage mein Scherflein dazu bei.«
»Als was?«
»Nun ja, wir gehören hier zu den ältesten Familien. Uns gehört einiges im Ort. Wir stellen den Bürgermeister und sorgen dafür, daß alles läuft und seine Ordnung hat.«
»Die mir gar nicht gefällt.«
Er lachte mich aus. »Haben Sie als Polizist lieber das Chaos, Mister?«
»Nein, das nicht. Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Als ich mich kurz vor Ihrer ach so sauberen Ortschaft befand, stand an der Stra ßenseite ein Anhalter. Ich nahm ihn mit. Ein Mann oder eine Frau mit sehr langen, goldblonden Haaren. Ich dachte, in der Kälte kannst du ein gutes Werk tun. Dieses gute Werk hätte mich fast das Leben gekostet.« Ich reckte den Kopf und hielt ihn so, daß Redburn die beiden Pflaster sehen konnte. »Es sind die Wunden eines Messers, das mir der nette Anhalter plötzlich gegen die Kehle drückte.«
»Ach – tatsächlich?«
»Ja, ich habe keinen Grund, Sie anzulügen. Da Sie ja die Menschen hier so genau kennen, müßte Ihnen auch der Anhalter bekannt sein. Oder etwa nicht?«
Redburn hatte die Flasche neben dem Glas stehenlassen. Er nahm sie und kippte das Glas noch einmal bis knapp über den Eichstrich voll. »Nein«, antwortete er, »tut mir leid. Den kenne ich nicht. Er kann aus dem Nachbarort stammen.«
Ich schaute zu den beiden Schachspielern. Sie hatten sich demonstrativ umgedreht, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Mir war klar, daß da einiges nicht stimmen konnte. Einer zumindest aus diesem Kreis hier log.
»Also nicht«, sagte ich noch einmal.
»So ist es.«
»Ich halte nur fest, daß sich in der Nähe von Fillingrow, dem Ort, wo alles noch seinen rechten Weg geht, ein Mörder aufhält. Liege ich da sehr falsch?«
»Bestimmt.«
»Tut mir leid, Mr. Redburn. Ich habe die gegenteiligen Erfahrungen gemacht. Der Mann hatte vor, mich auf furchtbare Art und Weise umzubringen. Ich verdanke es eigentlich nur einem Zufall, daß ich noch lebe. Wenig später hörte ich das Heulen des Werwolfs. Ich kenne den Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen nicht, kann mir aber denken, daß es einen solchen gibt.«
»Ach, Unsinn.«
»Nein, das ist kein Unsinn. Und ich sage Ihnen, daß ich nicht eher verschwinden werde, bis ich diesen Fall hier aufgeklärt habe. Ist das auch in Ihrem Sinne?«
Er schaute mich unsicher an. »Wie haben Sie das denn gemeint,
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