052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
alten
Blanche und diesem Dr. Sarde hörig. Zuvor hatte man mit ihm noch ein
vernünftiges Gespräch führen können, aber seit einigen Wochen war Paul wie
verwandelt. Er ließ sich kaum mehr mit einem Mädchen ins Gespräch ein.
Paul war rauschgiftsüchtig, jeder wusste das. Aber in der letzten Zeit litt
er nicht mehr unter dem chronischen Mangel an Stoff, den man ihm so oft
angesehen hatte. Durch Dr. Sarde und Blanche erhielt er alles, was er brauchte.
Yvette hatte einmal beobachtet, wie Sarde Paul ein Päckchen mit
Morphiumampullen zugesteckt hatte.
Paul tat alles für sie. Er würde sogar für seine Wohltäter morden, davon
war Yvette überzeugt.
Da war das Geräusch der Schritte wieder auf der Treppe. Diesmal leiser. Und
sie näherten sich dem Gang, der zum Weinkeller führte.
Yvette warf den Kopf herum. Im diesigen Licht, das von der weitab stehenden
Straßenlaterne in den Korridor schien, sah sie den verwaschenen Schatten einer
verzerrten menschlichen Gestalt.
Die Prostituierte wich auf Zehenspitzen in das Dunkel zurück, als die
Umrisse der Gestalt über die oberste Treppenstufe fielen. Dann wurde die Figur
voll sichtbar.
Es war eine alte Frau, Blanche, die schwerfällig die Treppen herunterkam.
Sie trug einen dunkelvioletten Morgenmantel, der ihr bis zu den Knöcheln
reichte.
Yvette hielt den Atem an. Sie drückte sich in die schattige Ecke, als
Blanche jetzt direkt vor der Tür auftauchte, die zum Labor Dr. Sardes führte.
Ein trockener Husten schüttelte den Körper der alten Frau. Sie warf wütend
die halb angerauchte Zigarette auf den Boden und trat mit der Ferse die Glut
aus.
Sekundenlang sah Yvette das Gesicht der Alten vor sich und hätte es greifen
können, wenn sie den Arm ausgestreckt hätte.
Blanches dunkle Augen lagen in tiefen Höhlen. Ihr Gesicht war faltig. Feine
Runzeln zeichneten auch ihre bleichen, ein wenig hart wirkenden Lippen.
Ihre Haltung war noch recht gut. Sie ging nicht gebeugt. Sie hielt sich
aufrecht.
Deutlich sichtbar befand sich neben dem rechten Nasenflügel eine kleine, etwa
fingernagellange Narbe, die von einer Messerverletzung herrührte, die sie sich
als Kind beigebracht hatte.
Blanche klopfte dreimal an. Kurz hintereinander.
Die junge Prostituierte wagte kaum zu atmen, als sie die Schritte von Dr.
Sarde hinter der schweren Tür vernahm. Das ganze kam ihr recht merkwürdig vor.
Es war mehr als ungewöhnlich, was hier geschah. Sarde kehrte gegen drei Uhr
morgens nach Hause zurück und kurz darauf tauchte Blanche auf und begehrte
Einlass in sein Labor. Was hatte der geheimnisumwitterte Alte, der die
französische Sprache mit einem typisch amerikanischen Akzent sprach, in seiner
Reisetasche mitgebracht? Wenn es nur Morphium, Opium oder Haschisch gewesen
wäre, würde man weniger geheimnisvoll vorgegangen sein.
Sarde öffnete sofort. Blanche trat ein. Für den Bruchteil einer Sekunde
schien es, als zögere die Alte, über die Schwelle zu treten. Ihr Gesicht war
seitlich abgewandt, und Yvette hatte das Gefühl, als würden die Augen der Alten
das Dunkel durchdringen und sie in der Finsternis wahrnehmen.
Doch es war nur Einbildung. Es konnte nicht sein. Blanche trat ein. Yvette
ließ einige Sekunden verstreichen, ehe sie sich wieder heimlich der Tür näherte
und lauschend ihr Ohr anlegte.
»... hast du es?«, hörte sie leise aber deutlich die Frage aus dem Mund der
Alten.
»Natürlich. Komm mit! Ich habe ihn schon seziert, und ...« Sardes Stimme
brach so abrupt ab, als würde plötzlich jemand eine Hand auf seinen Mund legen.
Es war aufregend still hinter der schweren Tür.
Yvette hörte ihr eigenes Herz klopfen.
Sie hatte kein gutes Gefühl.
Wie hypnotisiert stand sie da, beugte sich noch einmal nach vorn und
versuchte einen Blick durch das Schlüsselloch zu erhaschen. Aber selbst das
erwies sich jetzt als unmöglich. Sie nahm nicht einmal mehr die verwaschenen
Umrisse wahr.
Stockfinster war es vor ihren Augen.
Sarde hatte das Licht gelöscht.
Vielleicht befand er sich auch in einem angrenzenden Raum. Sie wusste nur,
dass der Weinkeller sehr groß und in mehrere Räumlichkeiten unterteilt war. Sie
würde es bald wissen. Spätestens morgen. Sobald Blanche und Sarde aus dem Haus
waren. Für Marcel würde es keine Schwierigkeit sein, die massive Holztür mit
einem Universalschlüssel zu öffnen. Yvette konnte es kaum erwarten, einen Blick
in das Labor zu werfen. Übermächtig fühlte sie den Wunsch in sich aufsteigen.
Tageslicht brach bereits durch die
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