052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
Aus seiner
Stimme klang deutlich heraus, dass er langsam munter wurde.
»Ich habe seit drei Uhr kein Auge geschlossen. Hör gut zu, Marcel: ich habe
auf der Lauer gelegen. Wegen Blanche und diesem komischen Kauz namens Dr.
Sarde. Etwas stimmt hier nicht. Ich habe das Gefühl, dass wir wirklich Kapital
herausschlagen können, vorausgesetzt, dass wir mehr erfahren. In das
geheimnisvolle Spiel, das hier ganz offensichtlich getrieben wird, ist auch
jene junge Fremde eingespannt, von der ich dir schon erzählt habe. Sie sieht
der Alten verdammt ähnlich und könnte fast ihre Tochter sein. Gestern, als ich
am Zimmer von Blanche vorbeikam, hörte ich den Namen Claudine fallen. Wir sollten uns diesen Namen merken. Claudine ist
wieder im Haus! Ich habe sie vorhin aus dem Labor des Alten kommen sehen. Sie
muss dort schon den ganzen Abend über gewesen sein. Das ist mir ein Rätsel. Ein
Rätsel ist mir auch, wieso sich Blanche in dieser Minute offenbar noch immer im
Labor Sardes aufhält. Und der Geruch, Marcel«, fügte sie hinzu, indem sie ihre
Stimme weiter senkte. »Wenn die Tür aufgeht, dieser süßliche Geruch. Wie Blut ...« Yvette schüttelte sich.
»Ich werde mich darum kümmern«, entgegnete er. »Mache dich nicht
verdächtig! Ich komme im Lauf des Tages vorbei. Sobald ich sicher bin, dass
Sarde und Blanche außer Reichweite sind, sehe ich mich im Labor einmal um.«
»Einverstanden, Marcel. Ich warte dann auf dich. Ich möchte dabeisein. Auch
ich möchte das Labor kennenlernen ...«
»Wie das im Einzelnen gehen wird, weiß ich noch nicht.«
Sie wechselten noch ein paar belanglose Worte miteinander, dann legte
Yvette auf. Als sie sich umdrehte, um die Kneipe zu verlassen, löste sich eine
schattengleiche Gestalt hinter der schweren Holzsäule, die die Decke neben der
Theke stützte.
Dr. Sarde.
Sie war unfähig zu schreien.
»... ich würde es Ihnen auch nicht raten«, sagte Sarde mit eiskalter
Stimme, und es war, als hätte er ihre Gedanken durchschaut. Er stand der
Prostituierten auf Tuchfühlung gegenüber. In seiner Rechten blinkte ein
rasiermesserscharfes Skalpell, das kühl ihren Hals berührte. Sarde führte die
Schneide langsam um die Kehle herum.
Yvette schluckte. Der kalte Schweiß trat ihr auf die Stirn.
»Wenn Sie auch nur den geringsten Laut von sich geben, werden Sie Ihren
Kopf die längste Zeit auf ihren hübschen Schultern haben, Yvette«, sagte er
spöttisch. Ein hämisches Lachen folgte seinen Worten. »Ich liebe es nicht, wenn
Sie das Haus zusammenrufen. Das müssen Sie verstehen. Und es würde Ihnen im
Prinzip auch gar nichts nützen. Ich bin sehr schnell mit dem Skalpell.«
Die Überraschte nickte mechanisch.
»Sie waren dumm, dieses Telefongespräch zu führen«, sagte Sarde
melancholisch. Er zuckte die Achseln. »Ich habe Sie gehört. Sie waren so
vertieft, dass Sie nicht einmal bemerkt haben, wie ich in den Schankraum
eindrang. Ich habe eine ganze Zeitlang hinter Ihnen gestanden.«
Er stellte sich jetzt wieder hinter sie, und Yvette wagte es angesichts des
Skalpells, das direkt an ihrer Kehle lag, nicht, sich umzudrehen. Sie
erschauerte bei dem Gedanken daran, dass Sarde Zeuge des aufschlussreichen
Telefongespräches war.
Der seltsame Doktor flößte ihr Furcht ein. Sie hatte in seine Augen gesehen:
Augen eines Wahnsinnigen , Augen eines
Menschen, der zu allem bereit war!
Er packte Yvette von hinten, hielt mit einer Hand ihre Armgelenke auf dem
Rücken umfasst, während er mit der anderen fest die Klinge an ihre Kehle
presste. Wenn sie ihren Kopf auch nur einen Millimeter weiter nach vorn
streckte, musste die Klinge ihre Haut ritzen.
»Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Ihren Freund Marcel in meinem
Labor begrüßen zu können«, fuhr er leise fort. In seiner Stimme schwang eine
seltsame Mischung aus Triumph und Ärger mit. »Ich werde ihn dort erwarten. Und
auch Ihrem Wunsch werde ich Rechnung tragen. Sie hatten doch so sehr darum
gebeten, etwas über mein Labor zu erfahren. Kommen Sie doch einfach mit!«
Mit diesen Worten schob er sie vor sich her und aus der Kneipe hinaus. Sie
passierten den Korridor und schon ging es die kahlen, ausgetretenen Stufen zum
Weinkeller hinunter.
Yvette atmete heftig. Sie zitterte am ganzen Körper. Doch sie wagte nicht
zu schreien. Nicht, solange das Messer so dicht an ihrer Kehle saß. Sie hoffte
auf einen günstigeren Zeitpunkt.
Dr. Sarde hatte den Eingang zu seinem geheimnisumwitterten Labor nicht
abgeschlossen. Er stieß die Tür
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