052 - Die Leichenkammer des Dr. Sarde
Madame
Blanches Freudenhaus war geschaffen.
Dr. Sarde nahm die Tasche an sich, als der Peugeot am Rande des
Bürgersteigs hielt. Dann beugte er sich ein wenig nach vorn.
»Paul?«, sagte er leise.
Der Fahrer drehte sich halb um. Sein breites, bleiches Gesicht leuchtete im
dunklen Innern des Wagens wie eine Mondscheibe.
»Doktor?«
»Es bleibt alles wie abgesprochen, Paul, nicht wahr? Du wirst umgehend in
die Rue Alexandre Dumas zurückfahren. Wir haben die Polizei noch kommen sehen,
sie werden das Mädchen inzwischen verhört haben. Aber ihre Geschichte muss
recht seltsam anmuten, und man wird ihr wohl keinen Glauben schenken. Ich
möchte aber verhindern, dass man genauere Recherchen anstellt. Solange die
Angelegenheit noch frisch ist, besteht für uns die größte Chance, die Sache
ohne großes Aufsehen zu überstehen. Eile tut not! Aber größte Vorsicht, Paul«,
warnte Sarde zischend. »Bisher hast du immer gut gearbeitet. Ich hoffe, es
bleibt so.«
»Sie werden mit mir zufrieden sein, Doktor. Die Angelegenheit mit Maurice
Gudeau ging auch ohne die geringsten Komplikationen über die Bühne.«
Sarde nickte. Bisher war auf Paul Verlass gewesen. Aber noch nie war auch
die Sache so brenzlig gewesen wie heute.
Sarde fühlte instinktiv, dass größte Schwierigkeiten auftauchen konnten,
wenn er nicht umgehend etwas unternahm. Auch bei Maurice Gudeau war es höchste
Zeit gewesen. Paul hatte nicht versagt. Im Sarg der zur Bestattung vorgesehenen
Edith Liron hatte er den Bestattungsunternehmer erwartet. Gudeaus Forderungen
waren in der letzten Zeit immer höher geschraubt gewesen.
Sarde konnte sich das nicht bieten lassen. Erpressung durch andere? Das
hatte er nicht nötig.
Als er daran dachte, verzogen sich seine Mundwinkel, und ein zynisches
Lächeln umspielte seine Lippen.
»Pass auf! Es ist möglich, dass ihre Wohnung beobachtet wird, Paul.« Mit
diesen Worten stieg Sarde aus. Als die Tür zuschlug, huschte aus der dunklen
Nische hinter dem Tor eine grazile weibliche Gestalt.
Es war Yvette. Eine der Prostituierten, die in diesem Haus lebten. Die
Dunkelhaarige trug einen superminikurzen Lederrock, der gerade unter ihrem Gesäß
abschloss. Lange, feste Schenkel boten sich den Augen des Betrachters. Über dem
winzigen Lederrock trug sie einen ebenso winzigen und hauteng anliegenden
leuchtend gelben Pulli, der deutlich machte, dass sie es nicht liebte, einen BH
zu tragen.
Yvette verhielt in der Bewegung, als sie den Alten erkannte, der aus dem
Wagen stieg.
Sie seufzte.
Sie hatte gehofft, um diese späte Stunde noch einen Kunden aufzugabeln.
Dr. Sarde kam an ihr vorüber, nickte kaum merklich und sagte aufheiternd:
»Noch eine schöne gute Nacht, Yvette!« Er kannte hier alle Mädchen und ging
im Haus der Madame Blanche ein und aus.
Die Mädchen wussten, dass Dr. Sarde in diesem Haus lebte. Was er eigentlich
machte und wovon er lebte, das jedoch wusste niemand – außer Madame Blanche.
Sie hatte ihm den großen, ehemaligen Weinkeller zur Verfügung gestellt. Es
hieß, dass Sarde dort sein Labor hatte. Er nannte es so. Aber in Wirklichkeit
war es seine Leichenkammer .
●
Die junge Prostituierte sah ihm nach, als er die schmale Holztür öffnete, die
ins Haus führte. Der muffige Geruch stieg ihr in die Nase.
Alles roch hier alt. Die Wände, der Flur und der abgetretene
Dielenfußboden, der unter seinen Schritten knarrte.
Sarde machte kein Licht. Gleich hinter dem Treppenaufgang stieg er die
kalten, steinernen Stufen zum Weinkeller hinab. Es waren insgesamt dreißig
schmale Stufen, die steil in die Tiefe führten.
Er sah nicht, dass die grazile Gestalt an der obersten Treppenstufe
auftauchte. Yvette warf einen Blick um die Ecke. Sooft schon hatte sie Sarde
beobachtet. Dieser rätselhafte Mann führte ein merkwürdiges Leben! Sie hätte zu
gern mehr über ihn gewusst.
Vorsichtig stieg sie auf Zehenspitzen die Stufen hinab, als Sarde den
schweren Riegel zum Weinkeller aufschob und dann mit einem Schlüssel, den er
aus der Hosentasche zog, aufschloss. Knarrend öffnete sich die Tür. Sarde
verschwand in dem düsteren Keller, aus dem ein leises Gurgeln drang.
Die schwere Tür klappte zu.
Yvette bewegte sich an der kahlen, feuchten Wand entlang. Über ihr spannte
sich wie ein steinerner Himmel das Bogengewölbe des Kellergangs. Sie hörte, wie
der seltsame Hausbewohner von innen die Tür wieder verschloss und wie seine
schlurfenden Schritte auf dem Steinboden schwächer wurden.
Lauschend
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