052 - Die Schlangengrube
und machte ein paar Zeichen. Dann legte sie die Schlange auf den Boden. Das Reptil glitt schnell davon. Es kroch zum großen Wohnwagen, zu der Tür, die zu Raffaels Unterkunft führte. Im Schauzelt wurde gerade wieder ein Tusch gespielt. Die Vorstellung war nicht unterbrochen worden, nach dem alten Motto aller Schausteller: Die Schau muss weitergehen.
Matteo und Andrej kamen aus dem Hinterausgang des Schauzeltes; die Liliputanerfrau Patty, die sie verständigt hatte, war bei ihnen. Die Amalfis hielten ihre gefährlichen Messer in den Händen. Ein Halbkreis von Zigeunern und Mitgliedern der Monstrositätenschau umgab den Eingang des großen Wohnwagens.
»Das Ungeheuer ist doch nicht etwa in der Unterkunft meines Vaters?«, fragte Matteo bleich.
»Wir werden es gleich wissen«, sagte Dorian. »Ich brauche ein Beil oder einen Knüppel.«
Eins der älteren Zigeunerkinder, die angsterfüllt im Hintergrund standen, brachte ihm einen dicken Prügel. Hart pochte Dorian mit dem Prügel an die Tür.
Sie wurde plötzlich von innen aufgerissen. Lourettas fettes Gesicht erschien. Sie trug einen schmuddeligen Morgenmantel, der ihre Speckmassen mühsam bändigte.
»Was ist los?«, keifte sie. »Was steht ihr alle hier und glotzt? Warum seid ihr nicht in der Vorstellung?«
Die Klapperschlange ließ ihre Klapper ertönen, richtete sich auf und ihr Kopf pendelte hin und her.
»Was soll das? Matteo, Andrej, ihr Taugenichtse, ich will jetzt wissen, was hier vorgeht?«
»Der Dämon hat wieder zugeschlagen, Mutter«, sagte Andrej leise. »Wir vermuten, dass er im Wohnwagen ist. Er wurde gestört, bevor er seine Opfer ganz auffressen konnte, und ist geflüchtet.«
»Im Wohnwagen?«, schrie Louretta im schrillsten Diskant. »Bei uns vielleicht? Seid ihr verrückt?«
»Was haben Sie in der letzten Viertelstunde gemacht?«, fragte Dorian und trat vor. »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Haben Sie keine Schreie gehört? Wo ist Raffael Amalfi? Was ist mit ihm? Ich will ihn sprechen!«
»Hast du mir Löcher in den Bauch zu fragen, du dahergelaufener Schnauzbart? Raffael geht es nicht gut. Er kann nicht herauskommen.«
»Dann kommen wir hinein.«
»Das wollen wir doch mal sehen.«
Aus dem Wohnwagen dröhnten wie immer Radio und Fernseher in Überlautstärke. Die fette Louretta fegte in die Unterkunft. Sekunden später war sie schon wieder da, einen Besen in der Hand.
»Bei uns sind keine Ungeheuer und Dämonen«, keifte sie und drohte Dorian mit dem Besen. »Hier kommt keiner hinein, wenn Raffael es nicht ausdrücklich anders sagt.«
»Mutter, so nimm doch Vernunft an!«, beschwor sie Matteo.
»Nichts da!«, kreischte die Alte wie eine Furie.
»Was geht da draußen vor?«, rief eine Stimme im Wohnwagen. »Louretta, geh von der Tür weg!«
»Jetzt habt ihr euren Vater aufgeweckt, wo es ihm so schlecht geht. Da seht ihr es!«
»Mach keinen Ärger, Weib!«
Louretta trat zur Seite.
Raffael Amalfi erschien. Er trug einen Schlafanzug und wirkte noch mitgenommen, aber er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht und stand fest auf den Beinen.
Die Schlange zischte, als Raffael aus dem Wohnwagen trat. Sie glitt blitzschnell auf ihn zu und richtete sich auf. Ihre Klapper ertönte. Raffael starrte die Schlange an. Er konnte unmöglich schnell genug aus ihrer Reichweite kommen. Sie musste ihn beißen.
Aber da erhielt er Hilfe von einer Seite, mit der niemand gerechnet hatte.
Die schöne Ramona trat aus der Menge. Sie bewegte sich blitzschnell und geschmeidig, schlug mit einem Knüppel zu, und die Schlange krümmte sich auf dem Boden. Ihr Rückgrat war direkt hinter dem Kopf zerschmettert.
»So!«, schrie Ramona wie eine Furie. Ihr schönes Gesicht war zu einer Fratze hemmungsloser Wut verzerrt. Immer noch trug sie das knappe Kostüm unter dem leichten Umhang. »Bist du wahnsinnig geworden, eine Giftschlange auf deinen eigenen Vater zu hetzen, Lucia? Dich sollte man gleich mit erschlagen.«
»Ruhe jetzt!«, brüllte Raffael. »Es ist keine Zeit für Weibergezänk. Lucia hat die Schlange nicht auf mich gehetzt. Ich will jetzt endlich wissen, was hier vorgeht!«
Zuerst redeten alle durcheinander, dann erzählten Dorian Hunter und Luis. Die alte Zarina hatte nahendes Unheil gespürt und war schon den ganzen Abend draußen herumgestrichen. Als sie die Schreie hörte, schickte sie die Kinder los, um alle zu alarmieren.
»Also doch!«, sagte Raffael schwer. »Der Dämon ist noch nicht tot. Pancho Seguila war es nicht. Wie erklären Sie sich das,
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