0520 - Das blaue Einhorn
entdeckte über sich eine Felszacke, griff zu und zog sich daran hoch, während das Einhorn wieder heranwirbelte. Julian verlagerte sein Gewicht auf den gesunden Fuß, und Sekundenbruchteile bevor das Tier ihm das Horn in die Brust rammen konnte, tauchte er zur Seite weg, schnellte sich dabei von der Felswand fort und krallte eine Hand in die Mähne. Das Einhorn wieherte schrill, stieg auf die Hinterläufe und tanzte herum. Julian schaffte es nicht, sich auf den Pferderücken zu schwingen, wie er es eigentlich geplant hatte. Das Einhorn bewegte sich so rasch abwechselnd in beide Richtungen seitwärts, daß er keine Chance bekam. Als es abermals mit Schwung hochstieg, war er gezwungen, die Mähne loszulassen. Er stürzte, rollte sich zur Seite - nicht schnell genug. Die auf ihn niederstoßenden Hufe verfehlten ihn zwar um wenige Zentimeter, aber als das Einhorn sich wieder aufbäumte, wußte er, daß es ihn diesmal niedertrampeln würde. Da fauchte ein Blitz heran. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich das blaue Einhorn in ein feuriges Etwas…
***
Die Bilder, die Stygia im Blut des Wirtes sah, halfen ihr nicht weiter. Die Dämonin fand keinen Zugang zu dem, was sie in dem Trugbild des verhaßten Julian zu sehen erhofft hatte. Bald schon erkannte sie, daß auch eine Verstärkung ihrer schwarzmagischen Kraft nicht weiterhalf. Es hatte also keinen Sinn, zusätzlich weitere Bewohner des Dorfes zur Ader zu lassen.
Sie war hochgradig verärgert. Was konnte sie noch tun? Hier auf jeden Fall nichts mehr. Sie verließ das Lokal und das Dorf und brütete weiter vor sich hin. Es mußte eine Möglichkeit geben, zuzupacken. Über die Julian-Fälschung glaubte sie den echten Julian fassen zu können, aber sie sah den Weg nicht, die Spur, die sich ihrem Sehen nach wie vor verschloß.
Mostache blieb zurück, schwebte immer noch frei in der Luft und mußte zusehen, wie sein Lebenssaft verrann.
So fand ihn seine Frau, die sich wunderte, warum er so viel Zeit unten im Schankraum verbrachte, obgleich es dort vor der Öffnungszeit kaum noch etwas zu tun gab.
Sie schrie nicht in panischem Entsetzen auf. Sie fragte auch nicht, was geschehen war - daß bösartige Magie im Spiel sein mußte, bewies ihr Mostaches Schwebe-Zustand. Sie rief den Notarzt und den Rettungshubschrauber, und mit dem nächsten Telefonat versuchte sie Professor Zamorra zu erreichen. Wenn jemand wirklich helfen konnte, dann der Dämonenjäger.
***
Julian starrte das brennende Einhorn an, das inmitten des Feuerballes zerschmolz. Es wieherte nicht, sondern verging stumm. Es kommt immer um diese Zeit hierher. - Warum? - Um zu sterben. Aber es war nicht die richtige Zeit, und es war auch nicht die richtige Situation.
Der Vorgang, bei dem eine schier unerträgliche Hitze freigesetzt wurde, dauerte nur wenige Sekunden. Dann zeugte nur noch ein schwarzer Brandfleck auf dem dort steinhart gebackenen Lehmboden davon, daß das blaue Einhorn einmal existiert hatte.
Julian wandte langsam den Kopf. Die Gluthitze hatte sein Gesicht gerötet. Wer immer das Einhorn ausgelöscht hatte, hatte ihm damit vermutlich das Leben gerettet. Unwillkürlich schaute er dorthin, wo er in dem ausgesandten Traumbild Stygia postiert hatte.
Sie war nicht mehr in der Situation »eingefroren«. Sie hatte sich aufgerichtet, und ihre Hand, die den Feuerball geschleudert hatte, war noch ausgestreckt. Wie in der Traumsendung. Sie sah jetzt auch nicht mehr transparent aus. Und sie bewegte sich.
Ihr spöttisches Lachen klang auf. »Du bist mir nun verpflichtet, Telepathenkind«, hörte er sie sagen.
Langsam schüttelte er den Kopf und richtete sich mühsam wieder auf. Der Schmerz in seinem Fuß war nicht mehr ganz so schlimm, und als er vorsichtig versuchte, ihn zu belasten, erkannte er, daß es zumindest kein Bruch war. Julian atmete auf.
Es hatte keinen Sinn, der Stygia-Figur zu sagen, daß sie nur eine Fiktion war und deshalb keine Ansprüche stellen konnte. Im Rahmen dieser Traumwelt war sie ebenso real wie alles andere - und würde sich selbst auch als real ansehen, vom Moment ihres Entstehens bis hin zu ihrer Löschung. Nicht einmal die Frage eines anderen nach ihrer Vergangenheit würde sie in Verlegenheit bringen; sie würde die Frage einfach verständnislos ignorieren und übergehen.
»Du solltest es als eine Ehre betrachten, mich gerettet zu haben - und bist nun deinerseits mir verpflichtet«, erwiderte er knapp. Im nächsten Moment wurden seine Augen schmal. Wie hatte sie ihn
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