0524 - Er raubte die mordende Göttin
drangen ihm entgegen. Sie störten seine Gedanken, waren aber ungemein wichtig, denn er sah und hörte, wie sich der Eingang bewegte.
Dieses Tor, dieser Stein – uralt schon, doch mit einem perfekten Mechanismus versehen, dem auch die langen Jahre nichts hatten anhaben können. Über seine Lippen huschte ein Lächeln, doch die Züge erstarrten in einer gewissen Spannung, als die fremden Gedanken in sein Hirn eindrangen und ihm eine Botschaft überbrachten.
›Gleich wirst du dich sehen!‹ Der Mann ballte seine Hände zu Fäusten. So deutlich hatte er die Stimme des Geistführers noch nie vernommen. Sie war so laut gewesen, als stünde er direkt neben ihm. Ramir Ghur drehte sich sogar um. Er schaute nur gegen die Dunkelheit. Sie stand zwischen den Gräbern und Felsen wie eine dicke Wand.
Etwas rann kribbelnd über seine Haut, als würden sich dort tausend Ameisen bewegen. Der andere stand dicht bei ihm. Er wollte sogar nach ihm fassen, und Ramir Ghur bekam den Eindruck, als würde sich jede Körperpore bei ihm öffnen.
Wie auch das Grabmal…
Noch vernahm er das Knirschen. So lange, bis das Tor offen stand und der Ägypter das Grab betreten konnte.
Noch zögerte er.
Obwohl er es so intensiv gesucht hatte und nun am Ziel seiner Wünsche angelangt war, kam es ihm doch unheimlich vor. Aus der offenen Grabstätte wehte ihm der Odem der Jahrtausende entgegen, und er brachte die Botschaft von Tod, Blut und Verwesung mit.
Da lockten die Geister der Meuchelmordopfer. Sie wollten, daß auch er zu ihnen stieß und er schluckte einige Male hart, bis er sich überwunden hatte und einen Fuß über die Schwelle setzte.
Das große Grabmal schluckte ihn. Die Finsternis nahm ihn auf.
Eine Dunkelheit, die dicht wie Watte war und ihn streicheln wollte.
Wenn er ging, knirschte es unter seinen Füßen. Da zerbrachen kleinere Steine, es streiften Spinnweben wie hauchdünne Arme sein Gesicht, und er streckte die Hände vor. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er noch die Stableuchte bei sich trug.
Sein Finger, mit dem er den Schalter bewegte, zitterte. Dann stach der Strahl halbhoch in die Leere des Grabs – erwischte die gegenüberliegende Wand.
Davor lagen sie.
Knochen, Staub, einfach menschliche Gebeine. Die Überreste derjenigen, die von einer Frau getötet worden waren.
Einer wunderschönen Frau, die ihren Platz ebenfalls auf dem Boden des Grabmals gefunden hatte.
Phädra war nicht verwest!
Noch immer zeigte der Körper die frühere Schönheit. Sie wirkte so, als hätte sie sich gerade zum Schlafengehen hingelegt und hielt auch die Augen geschlossen.
Neben ihr lag ein Mann.
Er war gekleidet wie ein Soldat aus dem alten Ägypten. Sogar sein Schwert trug er noch bei sich. Auch er mußte tot sein, aber er sah so aus, als würde er schlafen.
Ramir Ghur blieb stehen. Er wollte es kaum glauben, und er hörte die Stimme wieder.
»Der Mann bist du, der da vor dir liegt. Du bist es, und ich bin es. Wir gehören zusammen. Meneris hast du früher geheißen, ich bin Meneris, ich habe einen Körper gefunden, in dem mein Geist sich ausbreiten konnte, nämlich deinen.«
Ramir Ghur hatte die Lippen fest zusammengekniffen. Eigentlich lagen ihm tausend Fragen auf der Zunge, nicht eine wagte er zu stellen, weil die Konfrontation mit dem, was er einmal nur geglaubt hatte und jetzt bewiesen bekam, zu stark war.
»Glaubst du mir nicht?«
»Ja, ich glaube dir.«
»Dann geh hin und nimm die Frau. Ich habe sie damals geliebt, sie hat mich nicht erhört. Sie gab mir den Trank, den auch sie eingenommen hat. Bei ihr wirkt er anders als bei mir. Sie ist die mordende Göttin, und sie lebt.«
»Was soll ich tun?«
»Nimm sie auf deine Arme und führe das fort, was ich oder du vor langer Zeit schon gewollt haben. Sie ist diejenige Person, die du lieben kannst und mußt.«
Er nickte. »Ja, das werde ich. Aber was ist mit dir? Du liegst vor mir…«
»Meine Zeit ist um. Das Grab wurde geöffnet. Schau mich noch einmal an. Behalte in Erinnerung, wie ich ausgesehen habe, denn dieses Bild wirst du nicht mehr zu sehen bekommen…«
Ramir Ghur richtete seinen Blick auf den schlafenden Mann. Der bewegte sich plötzlich. Als hinge er an dünnen Fäden, die jemand zog, so richtete er sich plötzlich auf. Er blieb dabei in einer sitzenden Stellung, drehte den Kopf und schaute Ramir Ghur an.
Der Ägypter zitterte unter diesem Blick. Seine Gesichtsmuskeln bewegten sich, er wollte etwas sagen, sein Mund war zu. Dieser unheimliche magische Augenblick
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