0528 - Auftritt eines Toten
gehörte nicht hierher.«
»Wen oder was?«
»Eine Gestalt – glaube ich…«
»Du hast dich geirrt. Das kann auch Schnee gewesen sein. Du weißt doch, wie…«
»Nein!« keuchte er und streckte den Arm vor. »Das ist kein Schnee, das ist auch kein Nebel oder etwas anderes, das wie…« Ihm fehlten die Worte.
Dafür sprach Arlette Omère es aus. »Ein Geist«, sagte sie leise.
»Unser Geist…«
***
Das war er in der Tat!
Etwa eine Armlänge über dem Boden und auch schräg zum Hang versetzt, schwebte die Gestalt, die ihnen schon einmal geholfen und die Tür des Geheimgangs geöffnet hatte.
Der erste Schrecken wandelte sich in Erleichterung. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß dieser Geist etwas Böses von ihnen wollte.
Diesmal sahen sie das gespenstische Wesen noch weniger deutlich als in dem Zimmer. Die Schneeschleier trieben von der rechten Seite heran, und es sah so aus, als wollten sie den Geist kurzerhand wegwehen oder in den Schnee hineintreiben.
Kam der Geist näher, blieb er stehen? Im Wirbel nicht genau zu erkennen. Beide wischten sich die Augen frei, weil sie mit dem Geist eine gewisse Kommunikation aufnehmen wollten.
Aus dem Flockenwirbel wehte ihnen die Stimme entgegen. Es war eine dringend gesprochene Botschaft, wie ein fernes Singen zu hören, und beide verstanden sehr deutlich, was das Wesen meinte.
»Ihr müßt in den Wald. Und durch den Wald in den Ort. Versteckt euch dort. Er… er ist unterwegs, um euch zu fangen. Er wird euch töten, so wie er mich getötet hatte, als mein Körper und mein Geist noch vereint waren. Deshalb flieht! Lauft weg, laßt alles hinter euch! Ich kann euch nur darum bitten.«
»Wer bist du denn?«
Marcel bekam die Antwort, mit der er nicht viel anfangen konnte.
»Eine Verfluchte bin ich. Eine verfluchte Person auf der Suche nach der ewigen Ruhe, die man mir geraubt hat. Mein Schicksal hat sich erfüllt, das Foto aus der Zukunft ist zu einer grausamen Wahrheit geworden. Ich möchte den ewigen Frieden und kann ihn nicht finden, weil ich unter seiner Kontrolle stehe.«
»Dann flieh einfach!« rief Arlette. »Bitte…«
»Nein, ich stehe unter seiner Kontrolle. Es ist sehr schlimm. Seine Kontrolle ist stärker als mein Wille. Er ist grausam, er ist kalt, er ist ein…«
Der Geist »sprach« nicht mehr weiter, weil er sich plötzlich auf der Stelle drehte, als hätte er von einer unsichtbaren Hand einen harten Stoß bekommen.
»Was ist denn?« rief Marcel.
»Er hat es bemerkt, er hat die Kontrolle über mich. Er… er will mich zurückholen, er wird mich …« Die Gestalt brach ab. »Bitte, wenn ihr vernünftig seid, dann flieht. Lauft in das Dorf. Rennt so schnell wie möglich. Laßt euch durch nichts aufhalten, rennt weg! Ihr müßt weglaufen, ihr müßt euch durch den Schnee…«
Sie hörten nichts mehr. Es war so, als wäre ein Sturmwind gegen das Gespenst gebraust und hätte es zur Seite geschleudert. So sehr beide auch schauten, sie konnten das Gespenst nicht mehr entdecken. Es ging, um das Schicksal zu erfüllen.
Sie schauten sich an. Beide standen nach wie vor unter dem Eindruck des Geschehens. »Das ist furchtbar«, flüsterte Arlette. »Das ist nicht zu fassen. Mein Gott, in was sind wir hier hineingeraten? Was ist das nur, Marcel?«
»Ich weiß es nicht.«
»Mord und Totschlag!« flüsterte Arlette. »Es muß einfach Mord-und Totschlag sein. Ich… ich kann mir etwas anderes nicht vorstellen, tut mir leid.«
»Aber als Geist…?«
»Auch da, Marcel.« Sie stand dicht vor ihm und schaute in sein Gesicht. »Dieser Geist ist noch schlimmer dran als wir. Wir werden gejagt, aber er ist bereits ein Gefangener. Im Gegensatz zu ihm haben wir noch unsere Chance.«
»Du meinst die Flucht durch den Wald!« Marcel sprach mit tonloser Stimme.
»Genau! Deshalb sollten wir auch keine Sekunde zögern, verstehst du? Der andere ist unterwegs, das hat man uns gesagt. Van Akkeren will auch uns töten. Er hat den Geist zurückgeholt und wird erfahren, was geschehen ist. Wir müssen weg. Außerdem werden wir in Cerbac auf Frank Didier treffen. Vielleicht hat der schon einiges in die Wege geleitet.«
»Bei dem Wetter?«
»Ja, auch dabei.«
Arlette nickte. »Gut, dann zögern wir nicht länger.« Er schaute sich noch einmal um und holte tief Luft. Schneeflocken peitschten gegen sein Gesicht und fanden auch den Weg in seinen Mund. Er leckte sie von den Lippen.
Diesmal ging Arlette vor. Auch sie wußte die genaue Richtung.
Sie mußten einfach weg von
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