0528 - Auftritt eines Toten
diesem schützenden Hang. Nach kurzer Zeit würden sie den Wald erreicht haben, der ihnen Schutz gab.
Jetzt kam der Wind von vorn und brachte unzählige Schneekörner mit. Er peitschte sie gegen die Haut, ließ sie gegen die Kleidung prasseln. Wie dicke, weiße Watte kam er ihnen vor. Bei jedem Schritt sanken sie tief ein. Zusätzlich machte ihnen das Gefälle des Hangs zu schaffen, so daß sie aufpassen mußten, um nicht das Übergewicht zu bekommen.
Wie zwei Tiere wühlten sie sich durch den Schnee. Es war ein regelrechter Kampf zwischen Mensch und Natur, den sie einfach gewinnen mußten. Manchmal strich der Wind heulend über die blanke Schneefläche und schleuderte zahlreiche Flocken hoch, die sich zu Tüchern verdichteten und gegen sie klatschten.
Beide wußten nicht, wo sie sich befanden. Für sie zählte allein, daß sie die Richtung hielten.
Bergab, nur bergab…
Dunkelheit und Schneegestöber ließen keinen freien Blick zu. Sie waren umtost von einer wahren Hölle, die ihnen jegliche Sicht auf den Wald und die Umgebung nahm. Ein dichter, wattiger Herbstnebel in London konnte nicht schlimmer sein.
Arlette hielt sich dicht hinter ihrem Partner. Sie war höchstens zwei Schritte entfernt, hatte aber Mühe, ihn zu erkennen. Den Rücken sah sie nur schattenhaft, so daß ihm selbst ihr Partner vorkam wie ein graues Gespenst.
Wie weit konnte ein Weg werden, wenn die Unbilden der Natur ihnen Hindernisse in den Weg stellten?
Sie wußten es nicht, sie kämpften sich voran. Bei normaler Sicht hätten sie den Wald sicherlich längst erreicht, hier wurde jeder Schritt zur Qual, jeder Meter, den sie abwärts gingen oder rutschten, glich einem kleinen Abenteuer.
Es war nichts zu sehen. Der Schneevorhang nahm ihnen jegliche Sicht. Das blieb nicht so. Es war Marcel Wächter, der die Ausläufer des Waldes zuerst erreichte.
Noch sah er die dicken Stämme nicht, die den Wall bildeten, aber das erste Unterholz; nicht völlig vom Schnee verdeckt, ließ ihn hoffen.
Er drehte sich um und winkte. Arlette verstand. »Haben wir es bald geschafft?« schrie sie.
»Ja.«
Das gab ihnen Mut. Schon wenige Schritte weiter sahen sie etwas in der Dunkelheit hochwachsen.
Eine dichte, auch dunkle Wand, bestehend aus Bäumen, deren Zweige zusammenwuchsen und ein Dach bildeten, durch das die volle Schneemasse nicht durchgefallen war.
Zwar war auch der Waldboden von einer weißen Schicht bedeckt, sie lag aber längst nicht so hoch und glich mehr einem hellen, schräglaufenden Teppich.
Zwar wurde es für beide jetzt einfacher, weil der Schnee sich nicht mehr so hoch auftürmte, doch andere Hindernisse waren ebenfalls nicht zu verachten.
Das Gestrüpp, die harten Äste, die Zweige und auch der Weg, der sich an einigen Stellen so stark senkte, daß sie es beide nicht schafften, sich auf den Beinen zu halten, und den Hang hinabrutschten.
Sie gerieten dabei in Schneewälle, die aufstiebten, als sie hindurchglitten. Irgendwann konnten sich beide fangen. Sie lagen so am Boden, daß sie sich noch anschauen konnten.
Sie keuchten. Auf ihren Lippen lag die Schneekruste, die sie wegleckten. Im Gesicht, auf den Augenbrauen, hatte die weiße Masse Spuren hinterlassen. Während sie sich gegenseitig dabei halfen, auf die Beine zu kommen, wischten sie Schnee und Wasser aus ihren Gesichtern und rieben auch die Wangen so stark, bis die Durchblutung für eine gesund aussehende Röte sorgte.
»Wo sind wir jetzt?« fragte Arlette schwer atmend.
»Keine Ahnung. Wir müssen tiefer, das ist alles.«
»Und van Akkeren?«
Wächter schlug Schnee von der Kleidung, obwohl es keinen Sinn hatte. »Hast du ihn gesehen?« rief er laut. »Bestimmt nicht. Und ich habe ihn auch nicht entdeckt.«
»Er wird uns im Nacken…«
»Warte doch mal ab, verdammt. Kannst du laufen?«
»Frag nicht so dumm. Weiter.«
Der Weg nahm noch mehr an Gefälle zu. Am Hang hatten sich Böschungen hintereinander aufgebaut. In Stufen liefen sie abwärts oder aufwärts. Sie konnten von den beiden Flüchtlingen nur rutschend überwunden werden. Nach einer weiteren Bauchlandung in einem dichten Unterholz arbeitete sich Arlette keuchend hervor und schüttelte den Kopf, wobei sie gleichzeitig mit der flachen Hand auf die Schneefläche drosch. Ihre Nerven spielten nicht mehr mit. »Hört das denn nie auf?« schrie sie. »Verdammt, ich will bald nicht mehr.«
»Sei doch ruhig. Wenn uns van Akkeren hört!«
»Das ist mir auch egal. Ich hasse ihn. Ich hasse alles, was sich hier bewegt.
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