0531 - Die Flammenhexe
Dann ging er im Zehntelsekundenschritt langsam zurück. Es war ungeheuer anstrengend, diese »Einzelbilder« zu erzeugen, aber dann sah er plötzlich die Kugel, mehrere Meter weit von seinem Körper entfernt. Weniger als eine halbe Sekunde bis zum Treffer. Die Kugel, die jetzt im »Standbild« frei in der Luft schwebte, glühte rot. Die Reibungshitze der Luft, durch die sie ihrem Ziel entgegenraste…
Es war ein Moment, in dem Zamorra einfach nicht widerstehen konnte und in das Bild hineingriff, um die Kugel abzufangen oder ihr wenigstens eine andere Richtung zu geben. Aber er griff einfach hindurch. Im nächsten Moment wurde ihm klar, daß er nur ein Bild der Vergangenheit sah und nicht die Realität! Und dieses Bild, so realistisch es auch war, existierte nur in seinem Bewußtsein in dieser vollen Lebensgröße, weil er es so sehen wollte. In Wirklichkeit war es ein wenige Zentimeter durchmessender Mini-Bildschirm in seinem Amulett!
Etwas später begriff er, daß er auch ein Zeitparadoxon herbeigeführt hätte, wäre es ihm tatsächlich gelungen, diese Ablenkung, diese nachträgliche Verfälschung eines bereits geschehenen Ereignisses, durchzuführen. Falls der Attentäter in diesem Fall nicht einen zweiten Schuß nachgesetzt hätte, wäre er nicht ins Krankenhaus eingeliefert worden, hätte möglicherweise von diesem Attentat nicht einmal etwas mitbekommen, wäre deshalb auch niemals auf die Idee gekommen, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, weshalb er auch die Kugel nicht hätte ablenken können, worauf er wiederum getroffen worden wäre… mit den bekannten Folgeereignissen.
Es war gut, daß er nichts hatte unternehmen können. Das Raum-Zeitgefüge war schon seit langem geschwächt und stark angeschlagen; es hatte in den zurückliegenden Jahren einige dieser Zeitparadoxa gegeben, die das Kontinuum bis an die Grenze des Zusammenbruchs belastet hatten, und eines dieser Paradoxa wirkte immer noch im Hintergrund, war zwar blockiert, aber schon ein geringfügiger neuer Verstoß gegen die Zeit-Gesetze der Natur konnte es wieder als Realität voll wirksam werden lassen.
Aber was Zamorra tun konnte, war eine gedachte Linie zu ziehen. Von der Trefferstelle in seinem Körper über die fliegende Kugel, vielleicht zur Sicherheit auch noch an einem weiteren Punkt der Linie festgestellt, bis hin zur Waffenmündung. Er hatte das rotglühende Projektil gesehen. Da die Schußbahn fast hundertprozentig gerade verlief, konnte der Schütze nicht sonderlich weit entfernt gewesen sein, weil die Flugbahn der Kugel sonst eine leichte Parabel beschrieben hätte, der Erdanziehung folgend. Es wären minimale Werte gewesen, aber in diesem Augenblick begann Zamorra zu rechnen und stellte fest, daß diese Werte fehlten…
Jetzt ging er der Flugbahn nach, quer über die Straße. Zwei Frühaufsteher, die bereits mit ihren Autos unterwegs waren - oder waren es Spätheimkehrer? - , konnten ihm leicht ausweichen und hielten ihn vermutlich für einen Betrunkenen, der den Heimweg nicht so ganz schaffte.
Und dann - sah er den offenen Porsche wieder.
***
Nicole trat ins Freie, Hemd und Jacke über den Arm gehängt. Sie sah Zamorra über die Straße zur anderen Seite gehen. Er schien also tatsächlich etwas entdeckt zu haben, denn sonst würde er das ja wohl kaum tun. Sie seufzte; es würde schwer fallen, ihn vorübergehend zu wecken, wenn er dieser Spur nachging. Riß sie ihn aus seiner Versenkung, mußte er die Spur an derselben Stelle neu aufnehmen, also wieder vom Punkt Gegenwart aus neu in die Vergangenheit zurückkehren. Das kostete zusätzliche Energie. Ob er die überhaupt noch zur Verfügung hatte, konnte sie höchstens vermuten.
Sie grinste jungenhaft.
Vermutlich würde es darauf hinaus laufen, daß sie ihn, während sein Geist in der Vergangenheit verharrte, mitten auf der Straße seiner blutbefleckten Sachen entledigte und ihm die sauberen Kleidungsstücke anzog wie einem kleinen Kind, das das noch nicht allein schaffte.
Sie kam nicht dazu.
Kaum hatte Zamorra die Parkplatzmarkierungen am gegenüberliegenden Straßenrand erreicht, als er zu taumeln begann und zusammenbrach…
***
Der offene Porsche tauchte in Zamorras Gesichtskreis auf… die rothaarige Frau hinter dem Lenkrad. Der Wagen parkte mit laufendem Motor, und die Frau hielt eine Pistole in der Hand. Die Mündungsrichtung stimmte…
Zamorra ließ das eingefrorene Bild langsam weiterlaufen. Im Zeitlupentempo schoß die Rothaarige, ließ direkt nach dem Schuß
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