054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
Tee eingenommen und waren zum Essen außerhalb gewesen. Jasiro Takato
war fröhlich und ausgeglichen gewesen, aber Keiko hatte andererseits auch eine
gewisse Beklemmung wahrgenommen, die er seit der Begegnung mit dem Leichenwagen
nicht mehr abgelegt hatte. Bis um zweiundzwanzig Uhr waren sie zusammengewesen,
und Keiko hatte ihn beim Abschied bewußt auf den Vorfall angesprochen. Da
weigerte er sich sogar anzuerkennen, daß er überhaupt erschrocken war. Die
junge PSA-Agentin wußte, daß Jasiro ihr etwas verschwieg.
Aber
– was? Welche Bedeutung hatte der Leichenwagen? Sie hatte sich den Namen der
Firma und das Autokennzeichen eingeprägt und am Abend noch in einer ruhigen
Minute über ihren PSA-Sender nach New York gemeldet. Sie hatte die Bitte
geäußert, daß sich ein Nachrichtenmann der PSA um diese Recherchen kümmern
sollte, da sie im Augenblick ihre ganze Aufmerksamkeit dem jungen Mann zuwenden
mußte. Sie richtete sich auf eine lange Nacht ein. Sie wußte nicht, was
passieren würde. Es konnte sein, daß Jasiro noch mal das Haus verließ, daß er
selbst etwas feststellen wollte. Es war aber auch möglich, daß sie dem Vorfall
zuviel Gewicht verlieh und sich die Nacht umsonst um die Ohren schlug. Keiko
Yamada saß in ihrem Mitsubishi, der rund achtzig Meter von Takatos Haus
entfernt im Schatten von Alleebäumen parkte. Den Takatos gehörte das ganze Haus
aus Parterre und zwei Stockwerken.
Seit
einer Stunde war alles dunkel. Dann bewegte sich plötzlich die Silhouette eines
Mannes hinter dem Vorhang in der ersten Etage. Keikos Aufmerksamkeit nahm zu.
Die Japanerin richtete sich auf und spähte durch die Windschutzscheibe. Dann
flammte im Haus oben Licht auf. Es handelte sich um eine kleine Lampe. Der
Schatten war jetzt noch besser, wie ein belebter Scherenschnitt, zu erkennen.
Das war Jasiro! Er stand an einem Tisch in der Ecke und telefonierte. Nur eine
halbe Minute, dann legte er auf, schlüpfte eilig in seine Kleider und löschte das Licht. Keikos Sinne waren zum Zerreißen
gespannt, sie hatten sie nicht betrogen. Es ging etwas vor. Warum verließ
Jasiro zu vorgerückter Stunde nach all den Aktivitäten dieses Tages jetzt noch
mal das Haus? Mit wem hatte er telefoniert und sich offensichtlich verabredet?
Das
waren alles Fragen, die sie interessierten. Es konnte belanglos sein, aber auch
von größter Bedeutung für jene Dinge, die sich aus Takatos Berichten über
seinen Horror-Trip heraushoben. X-GIRL-I war entschlossen, es herauszufinden.
Oder hatte Takato nur Sehnsucht nach bestimmten Menschen, die er in der Zeit
seines Aufenthaltes in der Anstalt nicht mehr gesehen hatte? Außer seinem Vater
und seinen Betreuern hatte niemand Zutritt zu ihm gehabt. Er selbst hatte die
strenge Quarantäne gefordert, um nicht durch eingeschmuggeltes Rauschgift
wieder verführt und rückfällig zu werden.
Sie
sah ihn aus dem Haus kommen. Er stand einige Sekunden im dunklen Türeingang,
schaltete kein Licht ein und blickte rechts und links die Straße hinab. Unter
all den anderen am Straßenrand parkenden Autos fiel Keikos Mitsubishi nicht
auf. Jasiro Takato trug Blue jeans und einen dunklen Pullover, so daß er sich
von der Finsternis im Hausschatten kaum abhob.
Zwei
Minuten vergingen. Dann näherte sich vom anderen Ende der Straße ein Taxi. Es
hielt vor Takatos Haus, und der junge Mann stieg ein. Der Wagen wendete auf
offener Straße. Keiko startete, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr langsam
vom Straßenrand weg. Sie folgte dem Taxi, hielt aber genügend Abstand, so daß
Jasiro Takato auch beim Zurückblicken die Zulassungsnummer ihres Autos nicht
erkennen konnte. Außerdem war es fraglich, ob er sie sich überhaupt gemerkt
hatte. Ein Grund dazu bestand nicht. Auch jetzt würde er wohl kaum auf die Idee
kommen, daß ausgerechnet sie ihn bespitzelte. Der Weg führte in die Innenstadt.
Unweit der Ginza, der Hauptgeschäftsstraße, die mit ihren Tausenden von
Reklamebeschriftungen noch taghell ausgeleuchtet war, führte eine Seitenstraße
in einen quadratischen Hof. Auf der der Gasse zugewandten Seite der Mauer war
eine großlettrige Aufschrift zu erkennen. Bestattungsunternehmen Shisan. Das
war der Name, der auch auf dem Leichenwagen zu sehen war. Vor dem Tor hielt das
Taxi. Keiko fuhr nur bis zur Straßenecke und hatte das Glück, hinter einem dort
parkenden Kastenwagen stoppen zu können. Die Agentin schaltete die Scheinwerfer
aus und wartete. Eine halbe Minute später verließ Jasiro Takato das Taxi,
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