054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
Hirn fieberte,
sein Herz schlug wie eine Maschine in der Brust, hart und unregelmäßig, als
würde es jeden Augenblick stehen bleiben. »Spring, May!« rief er ihr zu. Er sah
die Umrisse der Frau, die er liebte, nur schemenhaft. In der Flucht lag
möglicherweise noch eine Chance, dem Grauen zu entgehen. May erkannte das auch.
Sie stieg auf die Bootswand und sprang in die Tiefe. Nur wenige Meter von der
Barkasse entfernt, schaukelte auf dem aufgewühlten Wasser ein Hausboot. Mit
weitausholenden Schwimmbewegungen eilte sie darauf zu. Sie schluckte und
prustete, erreichte den Rand des Sampans mit dem Aufbau und zog sich daran
hoch. »Paddelt!« rief sie mechanisch »Hier ist… der Teufel los… Flieht!« Alles
kam ihr unwirklich und alptraumhaft vor. Sie hing über dem flachen,
schaukelnden Boot und zog sich ganz nach innen. Die Dunkelheit und der dichte
Nebel ringsum machten alles noch viel schlimmer. Sämtliche Lichter in der
Barkasse waren erloschen. Auch die Scheinwerfer auf dem Grusel-Schiff schienen
nicht mehr. Die Generatoren, die für die Elektrizität gesorgt hatten, standen
still.
»Lee!
Mein Gott… Lee… Wo bist du?«
Plötzlich
tauchte eine Gestalt vor ihr auf, packte sie und riß sie in die Höhe. Sie sah
das Gesicht vor sich. Die unmenschlichen Züge eines länglichen, fleischlosen
Drachenschädels. Instinktiv stieß May ihre Rechte nach vorn und setzte sich zur
Wehr. Aber sie stieß ins Leere…
Der
Drachenmann war nicht materiell, und doch fühlte sie seinen Griff, den
unbarmherzigen Druck seiner Hände, als er ihre Arme auf ihren Rücken riß. Im
Nebel neben dem Hausboot tauchte lautlos und geisterhaft die schwebende
Dschunke auf.
Die
echte Gespenster-Dschunke von Shanghai! Unzählige, unheimliche Gestalten
drängten sich am Bug und schwangen sich an dicken Tauen durch die Luft und auf
das Hausboot zu, das sie stürmten. Aus dem Aufbau erfolgte ein wilder, spitzer
Schrei. Dann wurde eine weitere Frau aus dem Dunkeln gezerrt, die sich aufgrund
der Ereignisse dort verborgen hielt: Lia Kwang, die Freundin aus Hongkong, die
versucht hatte, sich vor dem Grauen in Sicherheit zu bringen. Doch Sicherheit,
die gab es nicht mehr dort, wo die Dschunke auftauchte. Die beiden Frauen
wurden auf das Gespensterschiff entführt. Sie taumelten über die Planken, die
wie milchiger Nebel wirkten, in dem ihre Füße bis zu den Knöcheln versanken.
Sie sahen das rote, unheimlich glühende Segel und wurden tiefer in den
Schiffsrumpf geführt. Sie waren unfähig, sich zur Wehr zu setzen. Der Schrecken
saß ihnen in den Gliedern und lähmte sie. Rauh wurden sie in dunkle
Kammern gestoßen. Ächzend und quietschend schlossen sich die Türen.
Auch
hier in den Kammern herrschte Nebel. Er umhüllte sie, sie atmeten ihn ein, und
er schien die Ursache für die bleierne Müdigkeit zu sein, in die sie fielen.
Die Frauen merkten nicht, daß weitere Angehörige ihres Geschlechts auf die
echte Gespenster-Dschunke verschleppt wurden. Nur die Frauen wurden entführt,
kein einziger Mann! Halb im Zustand der Trance spürten sie den Druck in den
Ohren und auf ihrem Körper. Es schien, als würde ein Zug oder ein Lift mit
hoher Geschwindigkeit plötzlich anziehen und losfahren. Die dösenden Gefangenen
wurden förmlich gegen die Nebelwände der Dschunke gepreßt und verloren durch
die ungeheuren unnatürlichen Kräfte, die sich auf ihren Organismus aus Fleisch
und Blut auswirkten, endgültig das Bewußtsein. Die Gespenster-Dschunke von
Shanghai verschwand ebenso schnell und lautlos, wie sie aufgetaucht war. Zurück
blieben Zerstörung, Wut und der Tod. Zwei Patrouillenboote der Küstenwache, die
auf verdächtige Bewegungen auf See aufmerksam geworden waren, liefen die
Position der Barkasse an. Von dort wurden in diesen Minuten Notsignale
abgefeuert. Die Offiziere der Patrouillenboote beschleunigten und versuchten
Funkkontakt zu der Barkasse zu bekommen. Doch der Funkverkehr war gestört.
●
Sie
hatte den ganzen Tag über schon ein komisches Gefühl. Spätestens seit Takatos
seltsamem Benehmen während der Fahrt durch die Stadt, war ihr klar, daß der
Entlassene in dem Leichenwagen irgend etwas gesehen hatte oder bei seinem
Anblick an etwas erinnert worden war. Keiko Yamada alias X-GIRL-I hatte
gehofft, daß Jasiro von selbst zu ihr über seine Gefühle sprechen würde. Er
hatte es nicht getan, obwohl den ganzen Nachmittag und den Abend dazu
Gelegenheit gewesen wäre. Sie hatten nach der Begrüßung im Hause Takato
gemeinsam
Weitere Kostenlose Bücher