054 - Die Gespenster-Dschunke von Shanghai
stand vor ihm. Lebend!
●
Der
Mann zögerte durch den Schreck, der ihm in die Glieder fuhr und verlor
wertvolle Sekunden. Erneut zuckte die Hand, die den langen Stab hielt, nach
vorn und berührte Fungs Stellvertreter an der Stirn. Der Mann kam noch zu einer
Reflexbewegung und konnte den Finger um den Abzugshahn seiner Pistole krümmen.
Aber zielen konnte er nicht mehr. Ein Schuß krachte. Das donnernde Geräusch
brach sich als mehrfaches Echo. Die Schlangengestalt mit dem Stab wurde nicht
getroffen. Die Kugel sauste eine Handbreit neben der Hüfte der
aufrechtstehenden Schlange in den Nebel und klatschte irgendwo ins Wasser. Zu
einem zweiten Schuß kam der Chinese nicht mehr. Auch er konnte sich nicht mehr
rühren. Aber er konnte, wie Larry Brent, hören, sehen und denken. So hatte er
noch eine Hoffnung. Der Polizist, der im Boot geblieben war, würde nach der
Ursache des Schusses forschen. Doch dazu kam es nicht. Der Uniformierte war
ebenfalls von dem geheimnisvollen Gegner längst ausgeschaltet worden.
Stocksteif und wie versteinert lag der Polizist auf den Bootsplanken und rührte
sich nicht mehr.
Erst
jetzt, als sie weiter aus dem Nebel herauskam und um die beiden Männer
herumging, war zu erkennen, daß es sich um einen Menschen handelte, der ein
Drachenkostüm trug und auf den Kopf deutlich erkennbar eine knöcherne
Drachenkopfmaske gestülpt hatte. Der Maskierte lachte leise. Es klang
triumphierend und gefährlich. »Habt ihr beiden wirklich geglaubt, mir den Boden
unter den Füßen wegziehen zu können?« Der Mann sprach ein verständliches
Englisch. »Ich habe lange auf diese Stunde gewartet. Und nun, so kurz vor dem
Ziel, daß die alte Macht des Geheimbundes der Drachenmänner wieder
aufleben wird, sollte ich Gefahr laufen, entdeckt zu werden? Niemals! Einen
größeren Gefallen als hierherzukommen, hättet ihr mir nicht erweisen können.
Was vor einiger Zeit begonnen hat, schwach und kaum wahrnehmbar, hat sich zu
einer lebenden, gewaltigen Kraft entwickelt, die gigantisch werden wird, wenn
man sie nicht in ihrer Entwicklung stört. Ich war schon oft hier draußen und
habe mir die Felseninsel angesehen. Niemand wußte davon. Eines Tages, bei Ebbe,
habe ich den Zugang in die Höhle entdeckt. Da gab’s noch kein Schiff und keine
Drachenmänner. Nur eins: die Statue des Drachens, den die Geheimbündler stets
zu verehren und anzubeten pflegten. Hier stand sie. Unverändert wie zu der
Zeit, als die Sektierer sich noch hier trafen. Und es gab die Überlieferung!
Anbetung und Verehrung eines Götzen, um die Kraft des Bösen wieder zu wecken,
die nur schlummerte. Ich brachte nach und nach junge Mädchen hierher. Sie waren
stets die auserwählten Geschöpfe der Geheimbündler. Ich zwang die Mädchen, den
Götzen anzubeten, um dessen Macht zu stärken. Die Opfer mußten solange die
Riten sprechen, die Sehnsucht nach Tod und Bösem ausdrücken, bis sie schwach
und hilflos waren und auch in der Agonie des Sterbens noch ihre Wünsche
murmelten. Sie verfluchten und verdammten den, der sie in diese Lage gebracht
hatte, und ahnten nicht, daß sie durch diese Flüche, durch die Atmosphäre des
Bösen, das sie selbst bewirkten, noch zu einer Verstärkung des Unheils
beitrugen. Keine, die hier starb, tat es gern. Auch diejenigen, die jetzt die
Gebete sprechen und die Beschwörungen denken, werden so enden. Und wieder wird
die Macht gestärkt, die die Gespenster-Dschunke und die dorthin verbannte,
ruhelose Besatzung aus dem Geisterreich gerufen hat und so wiedererstehen läßt,
wie sie einst war. Ruhelose, verfluchte Seelen, die dem Satan gehören, sind neu
erwacht. Ihr Sinn ist es, das Böse zu tun. Auch mein Sinn ist es, weil er mich
mächtig werden und über Menschen herrschen läßt. Was ich will, wird
geschehen. Euch kann ich nicht gebrauchen. Frauen und Mädchen müssen den
Götzen anbeten. In dieser Nacht noch wird die Dschunke erneut auslaufen und für
weiteren Nachschub sorgen. Ob in der Nähe der Küste von Shanghai oder vor Taiwan oder nahe Hongkong… irgendwo werden die Geister
der Toten fündig werden und junge Frauen und Mädchen entführen, damit sie hier
die Statue anbeten. Manchmal sind meine Freunde aus dem Geisterreich etwas zu
heftig vorgegangen. Ich könnte schon viel weiter sein. Aber bei den Überfällen
gab es Tote, die mir einen größeren Dienst erwiesen hätten, wenn sie hier in
dieser Höhle gestorben wären. An Entkräftung und Erschöpfung zu Ehren ihres
Gottes! Die Geheimbündler
Weitere Kostenlose Bücher