0544 - Der Bleiche
sich die Nebelwolken übereinander, ohne allerdings eine gewisse Höhe zu bilden. Sie hatten nur einen Weg freigemacht.
Den Weg in die Schwärze oder aus ihr heraus. Kyra konnte hineinschauen wie in einen furchtbaren und gleichzeitig endlosen Schacht, der keinen Boden besaß.
Zwischen den Welten waren die Gesetze der Physik aufgehoben worden. Länge, Breite, Höhe, das alles zählte nicht mehr. Man konnte nur in Dimensionen rechnen.
Kyra verstand es nicht, sie fühlte es nur. Sie merkte auch, daß andere Kräfte dabei waren, den Raum zwischen den vier Wänden zu füllen. Die Luft hatte sich verändert. Sie war kälter geworden, allerdings nicht so, als daß Kyra gefroren hätte. Es war eine andere Kälte, nicht zu vergleichen mit der einer sinkenden Temperatur.
Diese Kälte besaß ihren Ursprung in einer anderen Welt, einer anderen Ebene und Zeit. Was hier geschah, konnte nur durch Schwarze Magie erklärt werden.
Kyra richtete sich auf. Sie tat es mit langsamen Bewegungen, die ihr schwerzufallen schienen. Das Herz klopfte schneller, auf ihrer Stirn lag der Schweiß ebenso wie in den Handflächen, die nicht mehr auf die Rahmen gestützt waren.
Die Witwe blieb auch weiterhin in ihrer knienden Haltung, nur hatte sie jetzt den Rücken durchgedrückt.
Er würde kommen – und er kam…
Kyra hatte in den Schacht in der Spiegelmitte gestarrt. Sie sah sehr tief hinein, und sie erkannte, daß sich in dem Schacht etwas bewegte. Noch war nicht genau zusehen, um was es sich dabei handelte, doch sie wußte inzwischen, daß ihr Mann aus der Tiefe hervorkommen würde, um sie zu begrüßen.
Ein weißer Fleck, fast so breit wie dieser Schacht. Jedenfalls füllte er ihn bis zu den Rändern aus.
Und er stieg höher…
Langsam und lautlos. Als wollte er die Reise von der unsichtbaren in die sichtbare Welt genießen. Als Unsichtbarer hatte er das Jenseits verlassen. Je höher er kam, um so mehr Strecke er zurücklegte, ließen ihn die Mächte und Kräfte der anderen Seite auch in Ruhe, so daß er sich deutlicher hervorschälte.
Der Geist nahm menschliche Gestalt an. Zwar noch durchscheinend, aber sich immer stärker verdichtend.
Die Kälte nahm zu. Ein Totengruß aus dem Jenseits wehte der Wartenden entgegen.
Er strich über ihr Gesicht, als wollte er sie so begrüßen. Sie bekam eine Gänsehaut, zwinkerte mit den Augen und dachte daran, daß sie nur mehr Sekunden zu warten hatte, bis Luke zurück war.
Dann hatte die Gestalt das Ende der Spiegelfläche erreicht, und Kyra konnte bereits auf den Schädel schauen.
Er war kahl und glatt. Ein eiförmiger, langgestreckter Kopf, der gelb-gold leuchtete, als wäre in seinem Innern eine Lampe angezündet worden. Gelb schimmerten die Augen, gelb die tiefliegenden Wangenknochen und auch die blanke Schädelplatte strahlte eine gelbe Farbe ab.
Eine breite Sattelnase, schmal, aber dafür lange Ohren, ein Mund aus wulstigen Lippen, das alles gehörte dazu. So hatte Luke auch zu Lebzeiten ausgesehen.
Er war keine Schönheit gewesen. Nur hatte Kyra stets anders darüber gedacht.
Luke stieg höher.
Auch Kyra blieb nicht mehr knien. Sie stellte sich aufrecht hin und trat einen Schritt zurück, damit sie den nötigen Platz bekam, um ihre Arme ausstrecken zu können.
Es war wie an jedem Abend. Sie wollte ihn begrüßen.
Noch hatte er den Spiegel nicht ganz verlassen und rührte sich auch nicht. Sein Gesicht blieb unbeweglich. Es sah so aus, als wäre es aus Stein gehauen worden, über den flache Nebelschwaden schwebten. Die Arme hingen steif zu beiden Seiten des Körpers herab. Keiner der langen Finger zuckte an der Spitze.
Schon zu Lebzeiten hatte Luke Benson nicht eben zu den sonnenbraunen Menschen gehört. Nach seinem Tode war es noch schlimmer geworden. Seine Haut konnte nur mit einem Begriff umschrieben werden.
Bleich…
Ja, er war der Bleiche!
Der Bleiche aus dem Jenseits, dem Totenreich, ein Bote der anderen Dimension.
Wie ein langgestreckter Nebelstreif wirkte der Körper, im Gegensatz zu seinem Kopf, der von innen her leuchtete und ein fast überirdisches Strahlen abgab.
Dadurch war er auch durch- und einsichtig geworden. Jedenfalls konnte Kyra in den Schädel hineinblicken und sah hinter den äußeren Gesichtsmerkmalen die Knochen, die Adern, aber kein Fleisch.
Knochen und rote Adern bildeten innerhalb des Schädels einen einzigen Wirrwarr.
Kyras Blick glitt an der Gestalt entlang nach unten. Es war ihr nicht möglich, die Füße zu erkennen, da diese wiederum in einer
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