0544 - Der Bleiche
gehen, wo wir uns am wohlsten gefühlt haben, Liebster. Wir nutzen die paar Stunden aus, die dir bleiben, bevor du wieder in dein kaltes Reich zurückgehen mußt.«
Er sagte nichts und reagierte auch dann nicht, als sich Kyra von ihm löste.
Sie faßte nach seiner Hand. Zuerst glaubte sie, durch kalten Nebel zu greifen. Er klebte an ihren Fingern wie geeiste Watte und schob sich auch in die Räume dazwischen. Aber sie spürte in dem Nebel auch einen Widerstand. Es war seine Hand. Knochig und gleichzeitig noch fleischig. Jedenfalls eine ungewöhnliche Mischung, wie sie fand. Kyra drückte etwas fester zu. Er erwiderte diesen Druck, was sie zu einem Lächeln veranlaßte.
Ja, es tat ihr gut, seine Sympathie zu spüren. Sie fragte auch nicht danach, wie er es schaffte, zwischen den beiden Welten zu pendeln.
Für Kyra zählte nur, daß ihr verstorbener Mann sie letztendlich doch nicht verlassen hatte.
Eine Hand hatte sie noch frei. Die legte sie auf die Klinke und öffnete die Tür.
Von seinem Zimmer aus trat sie hinaus in den Flur, der ebenso dunkel war wie die übrigen Räume. Zwar waren die Wände gestrichen, im Laufe der Zeit allerdings nachgedunkelt.
Dieser Flur war eine Welt für sich. Schatten und Licht wechselten einander ab. Hier schienen uralte Geschichten wahrwerden zu können. Wer sich hierher setzte und im Licht einer Lampe alte Märchen und Schauerstorys las, konnte davon ausgehen, daß der Zuhörer sie hautnah und plastisch miterlebte.
Als Fußboden lagen hier ebenfalls alte Bohlen nebeneinander. Sie zogen sich von Wand zu Wand und mündeten in einer dunklen Leiste. Das Ziel der Frau war ihr gemeinsames Schlafzimmer.
Lange Jahre hatten sie nebeneinander im Bett gelegen. Das würde in dieser Nacht wieder so sein. Wie auch in der letzten Nacht und in den Nächten davor.
Neben dem Bett blieb sie stehen. »Du siehst, es ist alles für dich vorbereitet, Liebster.«
Er nickte.
»Freut es dich?«
Sein Kopf bewegte sich nach vorn. Es sollte ein Nicken werden, doch er deutete es nur an.
Kyra löste ihre Hand aus der seinen, bevor sie am Fußende des Betts entlang zu ihrer Seite ging, wo sie stets geschlafen hatte. Sein Laken hatte sie bereits zurückgeschlagen.
Kyra lächelte, Wieder war es wie immer. Sie würde den Knoten lösen, damit der seidene Hausmantel wie von selbst aufschwang.
Alles würde glatt verlaufen, doch sie zögerte damit, den Mantel zu öffnen.
Etwas hatte sie irritiert…
Kyra dachte darüber nach, was es gewesen sein konnte. Sie kam zunächst zu keinem Ergebnis, bis ihr einfiel, daß etwas an der Haltung ihres Mannes nicht stimmte.
Er stand da, als wollte er sich überhaupt nicht hinlegen. Neben dem Bett wirkte er wie eine Statue, über die ein dicker Nebel hinweggeflossen war und sich nun verdichtet hatte.
Kyra versuchte ein Lächeln, was ihr allerdings mißlang. Sie verzerrte nur den Mund. »Willst du nicht ins Bett kommen? Möchtest du dich nicht hinlegen?«
Er tat so, als hätte er die Frage wohl gehört, sie aber nicht verstanden, denn er drehte den Kopf in Richtung Tür, als würde er von dort einen Gast erwarten.
Da kam aber niemand.
Kyra hatte die Tür nicht geschlossen. Schulterbreit stand sie offen.
Kyra konnte in den Flur hineinschauen, der jedoch leer war. Dort zeichnete sich kein Schatten ab.
»Erwartest du jemand?« wollte sie wissen.
Luke drehte seinen von innen leuchtenden Schädel. Seine langgezogene Sattelnase bewegte sich. Gleichzeitig hob er die Schultern an, als würde er frieren.
In Kyra schlugen Alarmglocken an. Das mußte einfach so sein, wenn sie sich die Reaktion des Mannes vor Augen hielt. Sie ging davon aus, daß die Sinne des Verstorbenen nicht nur vorhanden, sondern auch sensibilisiert worden waren. Gerade diese Sensibilität sorgte dafür, daß er Gefahren öfter und schneller aufspürte als jeder andere.
Kyra ging zur Tür. Sie schritt zielsicher dorthin. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl, und Luke tat auch nichts, um sie daran zu hindern. Mit einem Ruck öffnete sie die Tür bis zum Anschlag, schaute hinaus auf den Flur und sah nichts.
Verwundert und dabei die Schultern hebend, drehte sich die Frau um. Luke, der Bleiche, stand im Licht der Nachttischlampe. Sie strahlte von der Rückseite her gegen ihn, ihr Schein drang in den festen, wattigen Nebel und durchströmte ihn, so daß er eine goldgelbe Farbe bekommen hatte.
»Ich sehe nichts«, sagte sie ihm. »Tut mir leid, Luke, aber ich kann nicht feststellen, was dich
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