0544 - Der Bleiche
Echt klang es nicht.
»Er löst sich auf?«
»So ist es, John. Und zwar in Nebelstreifen, sagt Ella. Kyra Benson ist danach immer sehr glücklich. Einmal ist sie ans offene Fenster getreten und hat gesungen.«
»Was für ein Lied?«
»Keine Ahnung.«
»Wie alt ist denn diese Kyra?« erkundigte sich Suko.
Tanner kniff das linke Auge zu und verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Diese Witwe ist eine Frau im besten Mannesalter. Ich würde sagen, sie hat soeben die Dreißig erreicht.«
»Oh!« Ich pfiff durch die Zähne. »Das ist allerhand. So jung und schon Witwe.«
»Zudem soll sie sehr attraktiv sein. Sie hat mal als Bardame gearbeitet, sagt Ella.«
»Muß das stimmen?«
»Nicht unbedingt. Du weißt ja, wie die Frauen sind. Manchmal übertreiben sie. Hinzu kommt auch ein gewisser Neid, aber da sage ich euch nichts Neues.«
»Klar, Tanner. Wann sollen wir deine Ella besuchen?«
»Wenn es möglich ist, heute abend noch.«
Ich schaute Suko an. »Hast du etwas vor?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Ich auch nicht.«
Chiefinspektor Tanner atmete auf. Wir hörten den Stein förmlich poltern, der ihm vom Herzen gefallen war.
»Jungs, ich freue mich, daß ihr so denkt. Wenn ich euch mal einen hinter die Ohren geben kann…«
»Halten wir den Kopf hin«, erwiderten Suko und ich wie aus einem Munde und lachten dann zu dritt.
Noch konnten wir lachen, aber das sollte uns bald vergehen…
***
Es gab nicht viele Dinge, die Kyra Benson liebte. Da stand sie an erster Stelle. Ja, sie liebte sich. Sie war eine ungemein starke Egoistin. Sie konnte sich stundenlang im Spiegel betrachten und ihren Körper streicheln, der in ihren Augen makellos war.
Für andere Männer trug sie zu viele Pfunde mit herum. Dreißig Pfund weniger, und sie hätte die ideale Figur gehabt, doch darum kümmerte sich Kyra nicht. Luke Benson, ihr verstorbener Mann, hatte sie so gemocht, mit ihrem schwarzlockigen Haar, das sie sich einmal in der Woche bei einem Frisör nachfärben ließ. Dann das etwas breite Gesicht mit den dicken Lippen, die sie stets blaßrosa schminkte, wenn sie ausging. War sie jedoch zu Hause, dann knallte sie eine hellrote Lackfarbe auf die Lippen, so daß der Mund Ähnlichkeit mit einer offenen Wunde besaß.
Sie trug noch dieselbe Kleidung, die ihr Mann stets an ihr so geliebt hatte.
Lange, bunte Kleider. Der Stoff zeigte nicht einfach Farben, nein, er war auch mit Motiven bedruckt. Mit Blumen, mit Gestirnen, hin und wieder auch mit Gesichtern, die sich zu Fratzen verzerrten, wenn das Kleid beim Gehen Falten warf.
Ihr Mann hatte es nicht geliebt, wenn sie BH trug. Auch nach seinem Dahinscheiden hatte sie darauf verzichtet, so daß die schweren Brüste unter dem Stoff auf- und abschwangen, wenn sie tänzerisch durch die drei Zimmer ihrer Wohnung schritt, die eine Einrichtung zeigte, wie sie junge Ehepaare sich heutzutage nicht mehr zulegten.
Die Möbel stammten aus den fünfziger Jahren. Kyra und Luke hatten sie von ihren Eltern übernommen. Es war viel Kitsch dabei, viel Nippes. Die langen Gardinen wurden von schweren Vorhängen umrahmt, die allerdings zu den hohen Fenstern des alten Hauses paßten.
Auch die Lampen glichen sich dem Stil der Einrichtung an. Die Steh- und Wandleuchten besaßen Pergamentschirme, auf denen der Staub so dicht lag, daß man einen Namen in ihn hätte schreiben können. Die dicken Teppiche gaben das Gefühl, auf Gummi zu laufen. Sie breiteten sich ebenfalls im Schlafzimmer aus, wo Kyra Benson, nur mit einem schwarzen Slip bekleidet, vor der Kommode saß und in den Spiegel schaute. Die ovale Fläche gab ihr Gesicht nicht sehr deutlich wider, dazu war sie an einigen Stellen zu blaß, aber die langen Haare waren zu erkennen. Kyra mußte die schwarze Flut sehen, um sie auskämmen zu können.
Sie tat es mit langsamen, fast schon genußvollen Bewegungen. Im Streicheln und Kämmen der Haare lag ein gewisser Ausdruck der Erotik, ein Knistern, als wäre jemand dabei, Funken herzustellen, die über die Haare liefen.
Kyra genoß diese halbe Stunde am Abend. Sie hatte geduscht, ihr Körper roch nach einem Puder. Der Slip spannte sich um das Hinterteil, wo die Haut Ringe und Falten warf, trotzdem fühlte sich Kyra wohl. Während sie sich kämmte, lächelte sie, schaute sich im Spiegel an, sah die vollen, breiten Lippen, die geschwungenen Brauen, die Wangenknochen, legte Kamm und Bürste zur Seite und drückte den Körper.
Die Lehne hinterließ einen Abdruck auf ihrer Haut. Kyra betrachtete sich im Spiegel.
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