0544 - Der Bleiche
noch mich von ihrer Theorie überzeugen können. Das merkte Mrs. Freeland auch und meinte: »Sie sind mehr Männer der Praxis, nicht wahr?«
»So ist es.«
»Deshalb habe ich Sie hergebeten. Sie können sich davon überzeugen, wie Kyra Benson einen Toten empfängt.«
Wir schwiegen.
Mrs. Freeland hatte Oberwasser bekommen. Sie hockte zurückgelehnt im Sessel und nuckelte an ihrer Zigarre. »Glauben Sie mir etwa nicht, meine Herren?«
»Es ist zumindest schwer«, gab ich zu.
»Das weiß ich.« Sie trank Tee und Rum. »Ich hätte Sie auch nie hergebeten, wäre ich nicht selbst voll und ganz davon überzeugt.«
»Wann erscheint denn dieser Mensch bei ihr?« erkundigte sich Suko. »Geschieht das immer zu einer bestimmten Zeit?«
»Nein, das ist unterschiedlich. Man kann es nicht auf die Minute festlegen.« Sie blickte auf die Uhr. »Ich würde sagen, daß wir nicht mehr lange zu warten brauchen.«
»Und wir können es vom Fenster aus sehen.« Ich deutete bei meinen Worten auf die Scheibe.
»Ja.«
Suko stand schon auf. Auch ich erhob mich. Mrs. Freeland blieb ebenfalls nicht sitzen. Um die Fassaden auf der anderen Straßenseite wenigstens etwas klarer erkennen zu können, mußte Mrs. Freeland die Gardine zur Seite schieben.
»Wenn ich Sie bitten darf, sich etwas mehr in Deckung zu stellen. Sie soll nichts merken.«
»Ich kann auch das Licht ausschalten«, sagte Suko.
»Das wäre gut.«
Ella Freeland zog an einem Band. Vor uns öffneten sich die Wolkengardinen so weit, daß der Zwischenraum der Schulterbreite eines Menschen entsprach.
Aus einer Schublade holte Mrs. Benson einen Feldstecher. Ein ziemlich altes, schweres Gerät. »Ich habe leider nur den einen«, sagte sie. »Sie hätten sich welche mitbringen müssen.«
»Welches Haus ist es denn?« fragte ich und stand so, daß ich schräg durch die Scheibe auf die gegenüberliegende Seite schauen konnte. Suko hielt sich neben mir auf.
»Sie blickten direkt darauf. Kyra Benson wohnt in der ersten Etage. Da die Häuser gleichgroß sind, können wir uns auch in die Zimmer schauen, wenn wir wollen.«
»Aha.«
Auf der Straße selbst war alles ruhig. Kein Mensch lief über den Gehsteig. Zwei Autos rollten langsam durch den Regen. Das aus den Wolken fallende Wasser verwischte die Konturen leider. Zudem brannte hinter dem bewußten Fenster kein Licht.
Ella Freeland hielt den Feldstecher vor ihre Augen und schaute auf das andere Haus, während sie an der Scharfeinstellung drehte.
»Sehen Sie etwas?« fragte ich.
Die Frau hob die Schultern. »Leider nein, aber sie ist im Zimmer. Ja, sie hält sich dort auf.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich fühle es, Mr. Sinclair.«
Nun ja, wenn sie meinte, ich jedenfalls konnte nichts erkennen, und Suko erging es ebenso.
Die folgenden Sekunden vergingen schweigend. Ella Freeland starrte gegen das Fenster. Hin und wieder nickte sie, als sähe sie sich in ihrer Annahme bestätigt.
»Tut sich denn jetzt was?« fragte Suko.
»Ja, ja, sie ist im Zimmer. Ich kann sie sogar sehen. Sie… sie kniet auf dem Boden.«
»Dürfen wir mal?«
»Moment, Mr. Sinclair, Augenblick.« Mrs. Freeland wurde aufgeregt. »Das ist jetzt soweit. Ich glaube, er ist da.« Sie holte tief Luft.
»Ja, Mr. Freeland ist von den Toten zurückgekehrt…«
***
Kyra spürte genau, daß es auch an diesem Abend klappen würde.
Noch immer kniete sie vor dem Spiegel, ihre Finger hielten die Rahmen rechts und links hart umklammert. Ihr Gesicht zeigte eine gewisse Anspannung und Anstrengung. Die wolkige Fläche des Spiegels lag nicht mehr ruhig vor ihr. Zwischen dem breiten Rahmen bewegten sich die Wolken wie blaugraue Nebelschwaden, die aus einer unheimlichen Tiefe an die Oberfläche gestoßen waren.
Kyra wußte Bescheid. Dieses Wallen, das sich Bewegen, das waren die Vorboten, die das Tor zwischen den beiden Welten allmählich öffneten. Gleich würde er kommen, aus dem Spiegel steigen und sie in die Arme schließen, wie früher.
»Luke!« flüsterte sie. »Ich bitte dich, Luke. Verlasse das Reich der Toten, gleite in die Ebene der Lebenden zurück, wo ich dich erwarte. Zeige allen Ignoranten, daß du stärker bist als sie. Darum bitte ich dich. Du weißt, daß wir zusammengehören und ich dich sehr liebe. Deshalb verlasse deine Welt um meiner Liebe willen. Komm zu mir. Ich… ich bitte dich darum, Luke! Komm …«
Und der Tote hörte den Ruf. Genau dort, wo sich die beiden verschiedenen Farben trafen, wurde sie auch zur Seite gedrückt. Da schoben
Weitere Kostenlose Bücher