0544 - Der Bleiche
hinüber zur gegenüberliegenden Straßenseite. Dort befand sich das eigentliche Ziel.
Das Gebäude direkt vis-a-vis gehörte zu den älteren in der Straße.
Vier Stockwerke hoch war es gebaut worden. Unter dem Dach wohnte auch noch jemand. Jedenfalls brannte hinter dem Fenster der breiten Dachgaube Licht. Auch in den anderen Wohnungen brannte Licht. Wo diese Person lebte, die angeblich jeden Abend ihren verstorbenen Mann empfing, wußten wir nicht. Ich drückte mich als erster in den schmalen Hauseingang und suchte mit der Flamme des Feuerzeugs das Klingelbrett ab.
Ella Freeland wohnte in der ersten Etage. Als ich klingeln wollte, wurde bereits geöffnet. Suko drückte die Tür auf, und wir betraten einen alten, gefliesten Hausflur, der auf uns düster wie eine Gruft wirkte. Aus dem hinteren Teil drang Licht durch ein Fenster, das jedoch schnell in der Düsternis versickerte.
Auch die Treppe verschwamm im schattigen Dunkelgrau. Wir gingen auf sie zu und hörten aus der ersten Etage bereits die Frauenstimme. »Kommen Sie nur hoch, Gentlemen, ich habe Sie bereits erwartet. Ihr Freund hat sie angemeldet.«
Suko hob die Schultern. »Da sieht man wieder, wie flink der alte Tanner gewesen ist.«
»Ja, manchmal ist er schnell.«
Die Stufen bestanden aus Stein, waren sehr breit und ließen sich bequem steigen.
Auf der ersten Etage wohnten zwei Parteien. Die Türen lagen dicht nebeneinander. Ella Freeland stand vor der rechten. Aus dem dahinterliegenden Flur fiel Licht und machte die Frau erkenntlich.
Sie trug einen Kittel oder ein Kittelkleid. So genau war das nicht zu erkennen. Das Haar mußte sie frisch aufgedreht haben. Die Locken waren überhaupt nicht zu zählen. Die Farbe schwankte dabei zwischen Schwarz und Grau. Das Gesicht war zu einem abwartenden Lächeln verzogen. Hinter der schmalen Brille musterten uns zwei prüfende Augen.
Sie kannte auch unsere Namen und bat uns, doch in die Wohnung zu kommen.
»Ich habe Tee gekocht…«
»Das ist nett.«
Sie schloß die Tür. »Es macht mir nichts aus, wissen Sie? Ich bin Witwe und freue mich, wenn ich hin und wieder etwas zu tun bekomme. Warten Sie, ich gehe vor.«
Unser Besuch hatte sie ganz aufgeregt gemacht. Suko und ich mußten lächeln. Wobei ich nur hoffte, daß sie Tanner nicht zum Spaß verrückt gemacht hatte, um etwas Abwechslung in ihr Leben zu bekommen. Solche Frauen gab es. Die gingen nur zum Arzt, weil sie nichts anderes zu tun hatten und gern mit jemandem reden wollten.
Sie führte uns in die gute Stube oder das Wohnzimmer. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, als ich den Raum betrat, der so sauber und aufgeräumt wirkte, daß der Besucher am liebsten über den frisch gebürsteten und gesaugten Teppich vorbeigegangen wäre. Leider gab es da keinen Platz, so gingen wir über den Teppich.
Das Zimmer hatte Ella Freeland mit Möbeln vollgestopft. Zwei alte Schränke, vier Sessel, zwei Tische, eine Kommode, der TV-Apparat, all das wirkte überladen.
Die nostalgische Schalenleuchte an der Decke gab kein Licht ab.
Das besorgte eine Stehlampe in der Ecke. Von ihrem Standbein zweigten drei Tulpen aus Glas ab.
»Bitte, nehmen Sie dort Platz, wo Sie wollen.« Ella Freeland zog die Tücher von den alten Sesseln und faltete sie zusammen. »Ich hole nur den Tee aus der Küche.«
»Danke sehr.«
Suko und ich setzten uns gegenüber. Wir sprachen kein Wort. Jeder kam sich unbehaglich vor.
Suko hob die Schultern und schaute zum Fenster. Es war ziemlich breit und hoch, wahrscheinlich hatte man es nachträglich eingebaut.
Die Gardinen hingen vor der Scheibe wie Wolken. Die blauen Übergardinen hingen bis zum Boden und bestanden aus schwerem Samt.
Das waren regelrechte Staubfänger.
Diese Wohnung glich einem Gefängnis. »So, hier ist der Tee«, sagte Mrs. Freeland, als sie zurückkehrte. Auf einem Tablett trug sie die drei Tassen und die Kanne.
Ich nahm es ihr rasch ab, stellte es auf den Tisch und verteilte die Tassen.
»Oh, das ist aber nett, Mr. Sinclair. Da wird sich Ihre Gattin aber freuen, wenn Sie ihr helfen.«
Suko grinste natürlich hinter dem Rücken der Frau, als ich meine Antwort gab. »Ich bin Junggeselle, Mrs. Freeland.«
»Ach je, Sie Ärmster.« Hinter den Brillengläsern wurden ihre Augen weit.
»Das kann auch seine Vorteile haben.«
Sie lachte. »Ha, ha, verstehe. Sie sind ja ein ganz schlimmer. Ja, das weibliche Geschlecht…« Sie winkte mit dem rechten Zeigefinger, als hätte sie etwas Schlimmes zu verkünden. »Haben Sie etwas
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