0544 - Der Bleiche
Ja, sie wog zuviel, doch auf ihre großen Brüste war sie stolz. Auch Luke war von ihnen begeistert gewesen. Er hatte sich ausgebeten, daß sie nach seinem Tod so bleiben sollte. Lächelnd nahm sie den roten Stift und zeichnete die Lippen nach. Sie wollte ja schön sein, wenn Luke kam…
Sie lachte leise. Wenn die Leute wüßten, was sie des Nachts tat.
Die regten sich stets darüber auf, daß sie keine Trauer zeigte.
Weshalb sollte sie auch Trauer zeigen? Luke war zwar tot, doch es gab ihn noch. Er kam sie immer wieder besuchen. Dann wurden es für beide herrliche Stunden. Nacht für Nacht…
Ja, die Nachbarn in diesem Haus. Das war schon eine besondere Gruppe. Man konnte sie nicht direkt als unsympathisch ansehen, das auf keinen Fall, aber sie waren neugierig. Die meisten wohnten seit mehr als zwanzig oder sogar dreißig Jahren in dem Haus. Sie waren, wie sie mal sagten, mit den Mauern verwachsen. Dieses Gebäude war etwas Besonderes. Einige behaupteten, es stünde unter einem gewissen Schutz, weil es, im Gegensatz zu anderen Häusern, die Bomben der Deutschen aus dem Zweiten Weltkrieg überstanden hatten. Rechts und links der Mauern waren andere Häuser in Schutt und Asche gefallen, nur dieses nicht.
Kyra fand sich schön genug, um das Ritual weiterführen zu können. Um das Haar festzuhalten, steckte sie einen dunkelroten Reif in die schwarze Flut. Ein letzter Blick in den Spiegel, ein zufriedenes Nicken, dann erhob sie sich.
Auf ihren Lippen lag auch weiterhin das Lächeln. Die Augenbrauen hatte sie angehoben, die Wimpern waren getuscht, der Mund nachgezogen, so liebte es ihr Mann.
Auf dem Bett, es war grau bezogen, lag der rote Hausmantel aus Seide. Mit zwei Fingern griff sie nach dem federleichten Kleidungsstück und streifte ihn über.
Wunderbar weich fiel er über ihre runden Schultern. Wenn sie ihn trug, gab er ihr das Gefühl, nackt und gleichzeitig angezogen zu sein.
Eine ungewöhnliche Mischung, aber Kyra war auch eine ungewöhnliche Frau. Sie schlang ihn vor dem Körper zusammen und knotete den Gürtel nur lose zusammen.
Danach trat sie ans Fenster. Um hinausschauen zu können, streifte sie die Gardine zur Seite. Der Blick aus dem Schlafzimmer fiel in den Hof. Er war eigentlich häßlich. Um das große Pflaster kümmerte sich niemand. Es hätte längst einmal ausgewechselt werden können.
Die beiden alten Bänke an der Hausmauer wirkten ein wenig deplaziert. Dafür paßten die Aschenkübel in die triste Landschaft.
Auch dieser Tag war trist geworden. Das Wetter hatte sich im Laufe des Nachmittags verschlechtert. Die Wolken waren lautlos herangekrochen, hatten einen dichten, feuchten Nebel gebildet, der wie ein Tuch über der Stadt lag.
Regen im Juli, das war für London nicht selten. Auch der Nebel nicht. In der City würden sich die Fahrzeuge jetzt stauen, die Menschen würden sich über die Witterung ärgern, das störte sie nicht.
Kyra hatte sowieso das Gefühl, auf einer kleinen Insel zu leben, an der das übrige Leben vorbeifloß. Der Kontakt mit der Nachbarschaft beschränkte sich nur auf das Nötigste. Außerdem waren ihr die Leute zu alt. Sie und Luke hatten zu den jüngsten Mietern gehört, nur weiter oben wohnte noch ein junges Mädchen, das aber nur ab und zu in seiner Wohnung war.
Ältere Ehepaare lebten in den verschiedenen Etagen. Es waren vor allen Dingen die Männer, die sie stets anstierten, wenn sie sie auf dem Flur trafen. Natürlich taten sie es nur, wenn ihre bessere Hälfte nicht dabei waren. Dann war die Gier in ihren Augen zu lesen und die dünnen Lippen zu einem schmierigen Grinsen verzogen. Sie waren irgendwie alle gleich, diese Kerle!
Bis auf Luke…
Er war etwas Besonderes. Kein Mann hielt den Vergleich mit ihm aus. Luke gehörte zu den Starken, er hatte Kyra Halt gegeben, auch noch über seinen Tod hinaus.
Sie trat wieder vom Fenster zurück, weil einer der Hausbewohner, der einen Plastiksack mit Müll in den Container geworfen hatte, sich drehte und an der Hauswand hochschaute.
Ausgerechnet zu ihrem Fenster. Bestimmt hatte er versucht, einen Blick zu erhaschen.
So waren sie eben, man mußte sich daran gewöhnen oder sie einfach ignorieren.
Kyra Benson wandte sich vom Fenster ab. Sie warf einen Blick auf die Uhr neben dem hölzernen Doppelbett. Es wurde Zeit, daß sie den dritten Raum betrat.
Im Flur blieb sie stehen, schaute zur Eingangstür und sah hinter dem Glas in der oberen Hälfte einen Schatten.
Dort stand jemand!
Kyras Haltung veränderte
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