0544 - Der Bleiche
sich. Plötzlich war sie nicht mehr locker, sondern angespannt. Auf ungebetenen Besuch konnte sie verzichten. Sie hätte auch nicht gewußt, wer sie noch um diese Zeit besuchen wollte. Dem Umriß nach zu urteilen, war es eine Frau.
Kyra hörte die Klingel! Früher hatte sie gescheppert, was die Bensons störte. Sie hatten sie schon vor Jahren auswechseln lassen, so daß nur mehr ein Summton durch den Flur schwang.
Obwohl sie nicht wollte, daß um diese Zeit jemand zu ihr kam, war sie doch neugierig geworden und öffnete. Die gespannte Kette hielt die Tür spaltbreit offen.
»Ja bitte…«
Die Besucherin ging einen halben Schritt zur Seite, damit sie durch den Spalt schauen konnte. Es war Mandy Fox, das Mädchen aus dem Dachgeschoß. Zum engen, weißen Minirock trug sie hellrote Strümpfe, passend zu dem dünnen Pullover, der die schlanke Gestalt gut nachzeichnete. Mandy trug das blonde Haar kurz und trotzdem zu einem kleinen Zopf geflochten, der wie der kurze Schweif eines Hundes am Nacken wippte.
»Ich erwarte heute Besuch, Mrs. Benson, und bin ein wenig knapp mit Kaffee. Wenn Sie mir vielleicht aushelfen könnten…«
»Was brauchen Sie?«
»Vier Löffel, falls sie können.«
»Ja, ich kann, Moment.« Sie schloß die Tür wieder, denn sie sah keinen Grund, Mandy Fox in die Wohnung zu lassen. Niemand sollte sie ohne Not betreten, obwohl die meisten Hausbewohner gern hineingegangen wären und sich umgeschaut hätten. Darauf allerdings könne Mandy gut und gern verzichten.
In der schmalen Küche, die zwischen dem dritten Raum und dem kleinen Bad ihren Platz gefunden hatte, füllte sie vier Eßlöffel mit Kaffee in ein Glas und übergab es der Nachbarin.
»Bitte sehr.«
»O danke, Mrs. Benson. Ich werde Ihnen den Kaffee morgen wieder zurückbringen.«
»Das brauchen Sie nicht.«
»Dann einen schönen Abend noch.«
»Gleichfalls.« Kyra schaute zu, wie Mandy Fox die breiten Stufen der Treppe hochschritt und sich vor dem Absatz noch einmal umdrehte. Da Kyra den Spalt verkleinert hatte, konnte nur sie das Kopfschütteln der jüngeren Person sehen.
Kyra zog sich zurück. Jetzt grinste sie. Wahrscheinlich hatte die Kleine von oben überhaupt keinen Kaffee gebraucht. Sie war einfach nur neugierig gewesen und hatte möglicherweise auch in die Wohnung gewollt. Dem war ein Riegel vorgeschoben worden.
Kyra war wieder allein und konnte endlich das tun, was sie sich vorgenommen hatte.
Auf leisen Sohlen betrat sie das dritte Zimmer, das zu ihrer Wohnung gehörte.
Es war ein besonderer Raum, in dem sich Luke stets wohl gefühlt hatte. Es fing schon mit den Balken an der Decke an. Nur dieses Zimmer besaß die düsteren Holzstücke, die sich von einer Seite zur anderen zogen. Auf diesem Fußboden lag kein Teppich. Wer den Raum betrat, schritt über die blanken Holzbohlen.
In einer Ecke stand ein kleiner Schemel. Sein Holz war mit der Zeit grau, geworden. Nicht weit entfernt bildete eine viereckige Truhe das einzig kantige Möbelstück.
Dennoch war dieses Zimmer irgendwie »eingerichtet«. Das lag an einem Gegenstand, der alles beherrschte. Auf dem Fußboden hatte er seinen Platz gefunden.
Andere Menschen hängen ihre Spiegel an die Wand, nicht so Kyra Benson.
Bei ihr lag der Spiegel auf dem Boden, die Fläche zeigte nach oben. Der Spiegel besaß eine rechteckige Form. Sein Rahmen schimmerte golden, war allerdings an einigen Stellen schon ziemlich abgeschabt, so daß dort das alte Holz durchschimmern konnte. Es besaß einen ebenso grauen Farbton wie der Schemel.
Eigentlich war der Spiegel nichts Besonderes, wenigstens nicht auf den ersten Blick.
Und doch unterschied er sich erheblich von den anderen, normalen Spiegeln.
Es lag an der Fläche!
Man konnte sie als zweifarbig ansehen, ohne jedoch eine Grenze zu erkennen. Die Farben Grau und Blau wechselten sich ab. In einer Hälfte überwog der blasse Blauton, in der anderen der Stich ins graue.
Eine Spiegelfläche ist normalerweile völlig glatt. Das war diese auch, und doch sah sie irgendwie anders aus. Flockiger oder wolkiger, als befänden sich zwischen den vier Rahmen gewisse Einschlüsse, die man mit blauem oder grauem Nebel vergleichen konnte.
Kyra Benson schritt von der Tür her auf den Spiegel zu. Ihre Schuhe bewegten sich auf den Bohlen und hinterließen dumpfe Laute. Das alte Holz knarrte. Es hatte sich im Laufe der Zeit verzogen und reagierte stark auf Witterungseinflüsse.
Vor dem Spiegel blieb sie stehen und senkte den Kopf. Jetzt hätte sie ihr
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