0558 - Aus dem Jenseits entlassen
Leben im weitesten Sinne umschreiben konnte, obwohl das Motiv eher den Tod und das Danach glorifizierte.
Gerty stand da wie ein kleines Kind vor dem geschmückten Weihnachtsbaum. Nur strahlten ihre Augen nicht, sie waren weit aufgerissen, vielleicht vor Entsetzen, vor Grauen oder Angst. Es gab dafür zahlreiche Begriffe.
Langsam hob sie die Arme an. Auch wenn sie sie ausbreitete, war es ihr nicht möglich, die beiden seitlichen Rahmen zu umfassen. Das Gemälde war einfach zu groß.
Ihr heftiger Atem beruhigte sich. So konnte sie sich auf Einzelheiten konzentrieren.
Der Kutscher war derjenige, der sie am meisten faszinierte. Er hockte zwar starr auf seinem Bock, aber er schaute sie genau an.
Trotz der leeren Augenhöhlen in seinem bleichen Schädel brannte sein Blick ihr entgegen. Darin las sie ein Lauern, vielleicht auch eine Aufforderung und das Wissen.
Bewegte er sich?
Gerty stand starr, wirkte wie eingefroren, denn der Schädel des Kutschers neigte sich langsam zur Seite, wobei er zusätzlich noch den Kopf drehte.
Der Blick sollte sie bannen!
Aber es geschah etwas völlig anderes. Hinter der bemalten Leinwand bewegte sich etwas, das gegen das Material drückte, es ausbeulte – und zerplatzen ließ.
Der Gegenstand stieß hervor.
Ein Schwert, eine Lanze, ein Messer – es konnte alles sein. Jedenfalls ein Instrument, mit dem gemordet werden konnte.
Über den Kopf des Skeletts hinweg rammte der Gegenstand aus dem Bild und genau auf den Hals der Frau zu.
Sie drehte den Kopf zur Seite. Düsternis und das Blitzen der Klinge gingen ineinander über, der Schmerz machte sie rasend.
Gerty Camrum schrie auf. Das Bild, der Nebel, alles zerplatzte vor ihren Augen, war plötzlich weg wie ein Spuk in der Nacht. Sie war allein – und erwachte…
***
Plötzlich hörte sie sich stöhnen und gleichzeitig jammern. Etwas umgab sie wie die Arme eines Kraken. Es war die verfluchte Finsternis, die den Nebel zur Seite gedrängt hatte.
Schweiß bedeckte ihr Gesicht und klebte auch auf ihrer Haut. Das dünne Nachthemd war ebenfalls durchgeschwitzt. Trotzdem floß eine Gänsehaut über ihren Rücken. Sie fror und schwitzte zugleich.
Ihre feuchten Handflächen rutschten über etwas Weiches. Es dauerte Sekunden, bis ihr klargeworden war, daß es sich dabei um das Laken des Oberbetts handelte. Etwas brannte dort, wo sie von der Messerklinge erwischt worden war. Gerty schaute hilflos nach vorn, als sie sich etwas aufgerichtet hatte.
Schwach malte sich in der Wand ein Rechteck ab, das Fenster. Ein Flügel stand offen. Der Wind wehte gegen die Gardine und warf sie wie einen feinen Schleier in das Zimmer hinein.
Links neben sich hörte sie die üblichen, leicht röchelnden Atemzüge. Dort schlief Paul, ihr Mann.
Sollte sie ihn wecken und ihm von diesem unheimlichen Alptraum berichten?
Nein, Paul brauchte seine Ruhe. Es reichte, wenn einer von ihnen die Nacht schlecht verbrachte.
Eine Nacht, die für Alpträume und schweres Leid wie geschaffen schien. Düster, schwarzgrau, dunstverhangen, passend in den Trauermonat November. Nur die Temperaturen wollten nicht so recht mitspielen. Sie lagen viel zu hoch. In den Nachmittagstunden war das Thermometer fast bis auf zwanzig Grad geklettert.
Völlig unnatürlich für diese Jahreszeit. Das paßte einfach nicht und war für Mensch und Tier bedrückend. Da handelte man völlig quer, da kamen eben die Träume, da wurde das Innere nach außen gekippt.
Nicht ohne Grund schliefen die Camrums bei offenem Fenster. Es wäre sonst einfach zu warm im Zimmer geworden.
Gerty blieb auf dem Rücken liegen. Sie wollte dafür sorgen, daß sich ihr Atem beruhigte. Wenn sie nach rechts schaute, schälten sich die Umrisse des viertürigen Kleiderschranks aus dem Dunkel. Er kam ihr vor wie ein Monstrum.
Auch die Kehle saß zu. Wenn sie einatmete, spürte sie den widerlichen Geschmack des Schleims im Mund. Er kam ihr scharf vor, als hätte sich dort etwas anderes gebildet.
Plötzlich haßte sie den klebrigen Schweiß auf ihrem Körper. Gerty kam sich vor, als würde sie dampfen und sich dieser vom Körper abgegebene Dampf unter der Decke zu einem Kondensat niederschlagen.
Sie drückte die Decke vorsichtig zur Seite und schwang sich aus dem Ehebett.
Paul schlief auch weiterhin. Er war zu beneiden, Alpträume schienen ihn nicht zu plagen.
Neben dem Bett standen die flachen Schuhe. Sicher schlüpfte sie hinein, stellte sich hin und setzte sich sofort wieder, da ihr Kreislauf verrückt spielte.
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