0559 - Kapitän Sensenmann
Frage.«
»Das habe ich.«
»Schön, dann wäre zwischen uns alles gesagt.«
Emily hatte noch tausend Fragen. Sie atmete durch den Mund, weil sie den scharfen Modergeruch, der von ihrer Begleiterin ausging, nicht mehr riechen konnte.
Und die Fragen? Die vergaß sie einfach, sie waren unwichtig geworden, wenn man sein Leben retten wollte.
Der Wagen begann zu schlingern. Es hing nicht mit den Fahrkünsten der Frau zusammen, der Untergrund war an dieser Stelle sehr feucht. Eine kleine nasse Insel, in der die Flüssigkeit kaum verdampfte und stets ein Stück Sumpf zurückließ.
Danach waren es nurmehr ein paar Yards bis zum Rand der verfluchten Klippen.
»Gib Gas!«
Emily schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht. Auf einmal bekam sie die innerliche Sperre. Zudem ging es um ihr Leben. Nicht gasgeben würde sie, sondern bremsen.
Das mußte Gayle Bowman geahnt haben, und sie reagierte entsprechend. Eine kalte Hand umklammerte Emilys Knie und übte gleichzeitig einen sehr starken Druck aus. Er setzte sich fort, das Gaspedal bewegte sich, der Wagen bekam Fahrt, sprang vor – und auf die Klippen zu.
Gleichzeitig öffnete Gayle die Tür.
Mit einer geschmeidigen Bewegung flankte sie aus dem Fahrzeug.
Sie hatte genau den richtigen Zeitpunkt abgepaßt. Emily würde einige Sekunden benötigen, um den gesamten Ernst der Lage zu erfassen, dann mußte es einfach zu spät sein.
Es war zu spät!
Das Fahrzeug bekam noch einmal einen Stoß und schoß weiter, erreichte den Rand der Klippen – und jagte darüber hinweg.
Die Beifahrertür schwang auf. Für die Dauer einer winzigen Zeitspanne schien der Wagen in der Luft und über dem Abgrund stehenzubleiben. Er überlegte sich noch, ob er fallen sollte, da riß ihm die Gravitationskraft in die Tiefe. Auf den ersten Yards lautlos, dann prallte es gegen eine vorstehende Kante. Blech verbog sich knirschend, die ersten Scheiben brachen, auch ein Schrei war zu hören, der schnell verstummte.
Das eigentliche Krachen des Aufschlags wurde vom harten Schlagen der Brandung verschluckt.
Trotzdem war es nicht zu Ende.
Gayle, die sich inzwischen aufgerichtet hatte, entdeckte einen blassen Widerschein aus Licht und Schatten, der über den Rand der Klippen hinwegkroch.
Das Fahrzeug unten brannte aus und schickte seinen makabren Abschiedsgruß in die Höhe.
Gayle Bowman war zufrieden. Sie warf keinen Blick mehr in die Tiefe, drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie auch gefahren war. Sie mußte noch mit ihrer Mutter sprechen…
***
Harriet Bowman hatte die Abfahrt des Wagens bemerkt und nichts getan, um ihn aufzuhalten. Ihre Tochter und Emily Cartwright hatten den Weg zu den Klippen eingeschlagen, und sie wußte genau, daß sie die Frau des Lebensmittelhändlers nicht mehr wiedersehen würde. Auch ihre Tochter gehörte nicht zu den normalen Personen.
Sie war in der Zwischenzeit zu einer anderen geworden, hatte sich sehr stark verändert, sah aus wie ein Mensch und gehörte möglicherweise nicht mehr zu ihnen.
Auf dem ebenen Gelände war der fahrende Wagen gut zu erkennen. Harriet sah noch, wie er schlingerte, als Emily ihn durch die feuchte Stelle lenkte, dann drehte sie sich um. Das Finale wollte sie nicht mehr sehen. Sie hörte auch nichts, denn sie hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Harriet kam sich vor wie eine ferngesteuerte Puppe, als sie auf den Tisch zuging, einen Karton nahm, ihn auf den Boden stellte und sich dann erst setzte.
Emily Cartwright würde sterben, war bestimmt schon tot, und sie hatte nichts dagegen getan.
Dieses Wissen brannte sich in ihrem Kopf fest. Es forderte gleichzeitig ihr Gewissen, und sie hätte sich selbst vorkommen müssen wie ein menschliches Schwein.
Nichts dergleichen geschah.
Harriet Bowman saß bewegungslos am Tisch und glaubte daran, daß es so hatte kommen müssen. Alles war im Buch des Schicksals aufgezeichnet, als schwacher Mensch konnte sie daran wenig ändern.
Der Karton stand neben ihr. Sie bückte sich und holte zwei Dinge hervor. Die Flasche mit Whisky und eine Packung Zigaretten. Harriet rauchte sehr selten, die Glimmstengel waren mehr für den Besuch gedacht. Nun aber brauchte sie eine Zigarette und auch einen Schluck aus der Flasche. Auf das Glas konnte sie verzichten.
Harriet öffnete die Flasche, setzte sie an und trank. Der Whisky gehörte zu der teureren Sorte, er brannte ihr nicht den Magen aus, sondern floß ziemlich weich die Kehle hinab. Dennoch verzog sie das Gesicht und wischte sich über die Augen. Mit
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